"Widerstand hat viele Namen" [1] - so lautet der Titel eines Kommentars von Hans Mommsen anlässlich des 50. Jahrestags des 20. Juli 1944. Es ist eines der großen Verdienste Mommsens, mit seiner Forschung zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus den Blick über die bis heute verklärten Männer um Stauffenberg hinaus geöffnet zu haben. [2]
Erinnernd an den siebzigsten Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto haben Julius H. Schoeps und Peter Steinbach im April 2013 eine Tagung initiiert, die sich dem komplexen Thema jüdischen Widerstands gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik widmete. Schoeps gilt als Kapazität der Historiografie des europäischen Judentums, Steinbach richtete die Konferenz in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand aus, der er seit vielen Jahren als wissenschaftlicher Direktor vorsteht. Die Beiträge von Schoeps und Steinbach eröffnen den Tagungsband, gefolgt von Aufsätzen einer Reihe von Autorinnen und Autoren, die sich überwiegend dem Forschernachwuchs zuordnen lassen.
"Der Blick auf den Widerstand von Juden ist deshalb besonders geeignet, die Vielfalt von Widerständigkeit, Selbstbehauptung und 'abweichendem Verhalten', von Normverletzung und Konspiration, schließlich von Gegenwehr und aktivem Kampf zu illustrieren." (23) Steinbach formuliert mit dieser Aussage im Sinne Mommsens einen der zentralen Beweggründe für die Auseinandersetzung mit der Thematik; dass der Widerstandsbegriff im Allgemeinen und jüdischer Widerstand im Besonderen von Historikern höchst kontrovers ausgelegt werden, machen die Herausgeber bereits im Vorwort sowie Schoeps in seiner Hommage auf Arno Lustiger [3] deutlich. [4] Er würdigt das Wirken Lustigers und anderer, weniger prominenter Regimegegner in warmherziger Weise. Schoeps wählt im Zusammenhang mit den Flugblatt-Aktionen des Kölners Richard Stern zwar den Ausdruck "Petitessen", die letztlich das "große Weltgeschehen" (11) nicht berührt hätten, derer sich zu erinnern jedoch bedeutsam sei. Auch Flucht (vgl. 8f.) und Suizid (vgl. 10ff.) anerkennt er als widerständiges Verhalten, allerdings ist der Preis dieses weiten Fokus ein eher unscharf umrissener Widerstandsbegriff.
Der Aufgabe begrifflicher Schärfung und damit einer "Kontextualisierung des jüdischen Widerstands" (23) nimmt sich im Folgebeitrag Steinbach an. Fehlt in seinen ersten Überblicksdarstellungen zum allgemeinen Phänomen "Widerstand" [5] der Aspekt des jüdischen nahezu gänzlich, liefert er an dieser Stelle eine differenzierte Einordnung und überwindet damit bisherige (letztlich auch eigene) "Fixierungen der Geschichtsschreibung" (23). Steinbach bezeichnet jegliche Abwertung ziviler Aktionen "einfacher Menschen" (19) als unangemessen. Widerstand wird von ihm eine "alltagsrelevante Dimension" (19) zuerkannt, der man sich angesichts massiv beschnittener jüdischer Handlungsspielräume nicht länger mit Maßstäben wie Aktivität oder Effizienz nähern dürfe. Ohne realistisch an einen Sturz des Unrechtsregimes glauben zu können, sei es vielfach um den "Schutz des Individuums, [die] Verteidigung seiner Würde und die Ermöglichung individueller Zukunft" (ebd.) gegangen. Eine zentrale Kategorie ist dabei die Selbstbehauptung, die sich leitmotivisch durch nahezu alle Beiträge in diesem Band zieht.
Die Darstellung gliedert sich im Weiteren in fünf etwa gleich lange thematische Blöcke á zwei bis vier Artikel: ausgewählt bei regional wie thematisch gelungener Streuung wurden jüdischer Widerstand im besetzten Polen, in Südosteuropa, in Westeuropa, im Deutschen Reich sowie in seiner kulturellen Überlieferung und Rezeption. Die Aufsätze in diesem Band zeugen davon, dass ein großer Bestand an lange Zeit unbearbeitetem Material existiert, dessen Erschließung unbedingt lohnt und bemerkenswerte Befunde zutage bringt.
Die Aktivitäten jüdischer Widerständler umfassen ein breites Spektrum an Verhaltensweisen. Melanie Hembera untersucht am Beispiel des Ghettos Tarnów die Problematik der Fluchtversuche, der Schaffung von Verstecken sowie der "wohl extremsten Form der Verweigerung, dem Suizid" (42). Ihr Text illustriert darüber hinaus die perfide Praxis der deutschen Besatzer, die nichtjüdische Bevölkerung zur Kooperation zu zwingen und via Bestrafungen und Belohnungen gefügig zu machen (vgl. 48ff.). Dieses Dilemma der polnischen Zivilbevölkerung greift ebenfalls Markus Roth in seiner Darstellung des jüdischen Guerillakampfes in Krakau auf (vgl. 65ff.). Anknüpfend an seine umfangreicheren Studien zu Juden in Krakau bzw. im Warschauer Ghetto [6], dokumentiert er anhand aussagekräftiger Quellen Partisanentätigkeit in den Wäldern, das Beschaffen von Waffen, die Legung von Bränden in der Stadt u. a. Deutlich wird die Entschlossenheit der Menschen, ungeachtet ihrer fatalen "Situation ohne Lösungschance" (69), Schläge gegen die Besatzung zu planen und umzusetzen.
Jene von Roth als "Taktik der kleinen Nadelstiche" (66) bewertete Vorgehensweise findet sich wieder in Sara Bergers Auseinandersetzung mit den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hier erfuhr die oben beschriebene Aussichtslosigkeit eine weitere Steigerung: 130 Überlebende stehen 1,5 Millionen Opfern gegenüber. Und doch fanden sich tatkräftige Menschen, die im Sommer und Herbst 1943 buchstäblich mit den eigenen Fäusten sowie mühselig organisierten, einfachen Werkzeugen Aufseher töteten und Fluchten ermöglichten. Der Preis dafür war hoch, doch schreibt Berger diesen Revolten kurz- wie langfristige Bedeutung zu (vgl. 85): Die betroffenen Lager in Sobibor und Treblinka wurden geschlossen. Mithilfe der Aussagen von Flüchtlingen konnte nach Kriegsende Lagerpersonal vor Gericht gestellt werden. Schließlich schufen ihre Schilderungen ein Zeugnis über das Geschehene, das unser heutiges Wissen entscheidend vergrößert.
Ähnliches gilt für einen der herausragenden Beiträge des Bandes, die Recherche Tanja von Franseckys zur Westerweel-Gruppe in den Niederlanden. Diese verzeichnete nicht nur eine bemerkenswert hohe Zahl von 300 über Belgien und Frankreich an die Grenze zu Spanien begleiteten und somit geretteten Menschen. Vor allem statuierte ihr Miteinander ein Exempel in Sachen Solidarität, Logistik und Zusammenarbeit. Lesenswert schildert die Verfasserin das strategische Geschick der Mitglieder, man teilt die diebische Freude derselben, wenn erneut ein Transfer gelungen war: "Ein herrliches Gefühl, die Deutschen so foppen zu können" (192), so einer der Transportführer der Gruppe, der von Fransecky abschließend treffend den Charakter eines "klassischen Netzwerkes" (207) attestiert.
Auch die weiteren Themenblöcke kennzeichnet ein "breiter angelegtes Verständnis von Widerstand" (90), so stellvertretend Marija Vulesica eingangs ihrer Analyse jugoslawischer Zionistinnen und Zionisten. Zu diesem Verständnis gehört selbstverständlich der Widerstand von Frauen, zunächst thematisiert von Esther Gitman im Rahmen eines Exkurses über kroatische Jüdinnen und ihr Wirken gegen das Ustaša-Regime (121ff.). Martina Bitunjacs Aufsatz "Es war ein schwerer, aber ehrenvoller Kampf gegen den Faschismus" (126) liest sich ambivalent: Zum einen dokumentiert sie die grundsätzliche Schwierigkeit, sich gegen die NS-Herrschaft zu formieren, zum anderen deckt sie die mangelnde Akzeptanz auf, unter der kampfbereite Frauen zu leiden hatten, deren Handeln regelrecht blockiert wurde. Letzteres trifft auf Marianne Cohn weniger zu; die Emigrantin von 1934 engagierte sich früh und aufopferungsvoll als Fluchthelferin, insbesondere für zahlreiche Kinder, die sie zur Schweizer Grenze geleitete. Kurt Schilde zeichnet das Porträt einer ungemein geschätzten, unerschütterlich optimistischen Frau, die selbst im Gefängnis ihren Mut nicht verlor - dass nach ihr eine Berliner Schule benannt ist, erscheint angesichts ihres Wirkens mehr als stimmig.
Neben all den Individuen und informell entstandenen Gruppen kommen auch Institutionen wie der Central-Verein oder die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zur Sprache, was den Blick auf die Thematik jüdischen Widerstands vervollständigt. Streift Mitherausgeber Gideon Botsch die Reichsvereinigung lediglich, wenn er die erstaunliche Bewahrung des Jüdischen Krankenhauses Berlins unter der Leitung Walter Lustigs (später Vorstand der Reichsvereinigung, nach Kriegsende wegen Kooperation mit der Gestapo in sowjetischer Haft hingerichtet) referiert, beschäftigt sich Johann Nicolai eingehend mit Stellungnahmen, Rechtsberatungen und Eingaben des C. V. gegen die nationalsozialistische Politik. Die vom Verein zur Selbstvergewisserung gewählte Formulierung der "Erfolge unserer Arbeit" (213ff.) wird dabei vom Autor übernommen, obwohl kaum von messbaren Veränderungen die Rede sein kann. Dennoch: das Vorgehen hätte zu einer "Genugtuung der deutschen Juden [geführt], dem Treiben der Nationalsozialisten nicht tatenlos ausgeliefert zu sein" (220).
Mit dem Aspekt kultureller Überlieferung und Rezeption schließt der Tagungsband. Die Begrifflichkeit der "spiritual resistance" (258) von Stephanie Benzaquen ergänzt eine Facette widerständigen Verhaltens; die von Morgan und Betram Nickolay gesammelten Partisanenlieder veranschaulichen in anrührender Weise eine Mischung aus Schmerz und Lebensmut. Dass Gila Lustigers Familienromane Beachtung finden, mag ihrem Vater Arno geschuldet sein und dürfte primär philologisches Interesse hervorrufen. Sahra Dornick verweist in ihren Ausführungen über diskursiven Widerstand selbst darauf, dass sich der Umgang mit gegenwärtiger, existenzieller Bedrohung letztlich "[fundamental] von der Tätigkeit des Schreibens eines Romans aus der [...] Position einer Nachgeborenen [unterscheidet]" (275).
Der diesem Band zugrunde gelegte Widerstandsbegriff relativiert nicht bloß Effizienz als Kriterium. Es wird in einigen Beiträgen darüber hinaus ein Verständnis dafür geweckt, dass der Wert von Widerstand an anderen Aspekten als geglückten Fluchten und ermordeten SS-Männern gemessen werden kann; und dass seine Wirkung sich oft erst im Nachhinein zu entfalten vermochte. Das Riskieren und Opfern des eigenen Lebens war somit vielfach eben nicht vergeblich.
Vielschichtigen Publikationen zur europäischen Geschichte wie der vorliegenden wäre ein sorgfältigeres Lektorat von Seiten der AutorInnen bzw. HerausgeberInnen zu wünschen. Ohne kleinlich sein zu wollen, stört die Zahl an sprachlich-grammatikalischen Unschärfen in manchen Texten beträchtlich. Tippfehler in Kopfzeilen ("Liternaturverzeichnis") sind Kleinigkeiten, falsche Interpunktion und Flexionen vermeidbar, Rechtschreibpannen wie "Aktionen wieder [sic] den deutschen Geist" versus "Widerherstellung [sic] des Berufsbeamtentums" (227) ärgerlich.
Anmerkungen:
[1] Hans Mommsen: Widerstand hat viele Namen. Betrachtungen zum 50. Jahrestag des Attentats auf Hitler, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 162, München, 16.7.1994, V3/1.
[2] Vgl. etwa die Darstellung: Der Widerstand gegen Hitler und die deutsche Gesellschaft, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), 81-104.
[3] Lustigers Untersuchungen, allen voran der Band: Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden 1933-1945, Köln 1994, haben maßgeblichen Anteil am gewachsenen Forschungsinteresse.
[4] Jüdischer Widerstand ist umstritten und fand lange so gut wie nicht statt in öffentlicher Diskussion und Forschung. Hannah Arendt und Raul Hilberg prägten seit den frühen 1960er Jahren das Bild von Schafen, die sich wehrlos zur Schlachtbank führen ließen: von Arendt stammt der Begriff der "Fügsamkeit" (in ihrem Werk: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, hier: 151), Hilberg unterstellt einen "eingeübten Rhythmus anpaßlerischen Verhaltens" (Raul Hilbergs Hauptwerk: The destruction of the European Jews, New York 1961 berücksichtigt kaum jüdische Dokumente; der zitierte Begriff stammt aus: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt 1992, 3. Auflage, hier: 199.)
[5] Jürgen Schmädeke / Peter Steinbach (Hgg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 1994, 3. Auflage; Peter Steinbach / Johannes Tuchel (Hgg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 323), Bonn 1994. Im erstgenannten Band gibt es keinen Beitrag zu jüdischem Widerstand, im zweitgenannten ist das Thema auf einen reduziert, d.h. auf 13 von insgesamt mehr als 600 Seiten.
[6] Andrea Löw / Markus Roth: Juden in Krakau unter deutscher Besatzung 1939-1945, Göttingen 2001; Markus Roth / Andrea Löw: Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung, München 2013.
Julius H. Schoeps / Dieter Bingen / Gideon Botsch (Hgg.): Jüdischer Widerstand in Europa (1933-1945). Formen und Facetten (= Europäisch-jüdische Studien. Beiträge; Bd. 27), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, XIII + 349 S., ISBN 978-3-11-041512-4, EUR 99,95
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