Victor Klemperer ist derzeit wieder vermehrt Gegenstand der Berichterstattung: Die Süddeutsche Zeitung preist seine "Lust am Erzählen", die er mit "großem sittlichen Ernst" [1] verbinde, von der lokalen Dresdner Presse wird ihm zugeschrieben, in seinen Aufzeichnungen "das Beklemmende des Alltags" [2] zu dokumentieren. Anlass für diese beispielhaft genannten Beiträge ist die jüngst erschienene Dokumentation von Klemperers Briefwechseln zwischen 1909 und 1960, dem Jahr seines Todes. [3] Davor war es längere Zeit vergleichsweise ruhig um den Romanisten, der mit seinen 1995 veröffentlichten Tagebüchern (vor allem) der Jahre 1933 bis 1945 weltweit bekannt geworden ist. [4] Die Flut an öffentlichen Lesungen, filmischen Umsetzungen und Didaktisierungen für den Schulunterricht, an Rezensionen, Übersetzungen und Forschungsarbeiten ebbte nach etwa zehn Jahren erkennbar ab, einzelne Monografien und Sammelbände bestätigen die Regel. [5]
Gegen diesen Trend beschäftigt sich der Übersetzungswissenschaftler und Philologe Arvi Sepp seit 2006 intensiv mit Klemperers zentralem Werk, den Tagebüchern. Die breite Auswahl an Publikationen u.a. zur Gattungstheorie des Tagebuchs, zu autobiografischem Schreiben allgemein sowie zur Komplexität Klemperers Identität als Deutscher jüdischer Herkunft weist Sepp als Kenner der Materie aus und mündete nach zehn Jahren in die vorliegende Studie.
Diese ist schlüssig aufgebaut, indem die im Zentrum stehende Auswertung und Deutung des Materials - aus gutem Grund beschränkt Sepp sich auf die zwölf dokumentierten Jahre nationalsozialistischer Herrschaft, was immer noch ein Korpus von 1500 Seiten bedeutet - auf einer kulturwissenschaftlich verankerten Gattungstheorie der Textsorte Tagebuch (Kap. 2) basiert. Interessant ist im abschließenden vierten Kapitel seine kritische Beleuchtung "erinnerungspolitisch bedingte[r] Instrumentalisierungstendenzen in der Klemperer-Rezeption" (19).
Der mit dem "Topographie-Begriff" beschriebene Ansatz, interdisziplinär vorzugehen und methodische Bausteine zur "anschlussfähigen Kontext- und Gattungsanalyse" (ebd.) zu kreieren, ist ohne Frage wertvoll - gibt es doch zahlreiche Selbstzeugnisse, deren wissenschaftliche Erschließung noch aussteht. Mit seinem gewählten übergeordneten, dezidiert kulturwissenschaftlichen Blickwinkel bleibt Sepp auf der Spur von Klemperers Schwanken zwischen philologischem und literarischem Schreiben, zwischen Wissenschaft und Narration, zwischen dessen Anspruch auf präzise Berichterstattung und letztlich doch subjektiver Interpretation. Folgerichtig hebt er im Rahmen seiner Gattungstheorie als spezielles Kennzeichen von Tagebüchern deren "Komplementarität von Faktizität und Fiktionalität" (65) hervor. Generell folgt er Friedrich Kittler mit der Bezeichnung des Tagebuchs als "materielles Gedächtnis" (138) zwecks dauerhafter Bewahrung kulturellen Informationsgutes mit der wichtigen Konsequenz, dass darin bzw. damit fortlaufend die Identität des Schreibenden konstituiert wird.
Methodisch geht Sepp mit eigenen Worten "doppelt perspektiviert" (22) vor, was auf Klemperers Schriften bezogen nicht neu, aber plausibel ist: die Analyse von "Identitätskonstruktionen" einerseits lässt sich von dessen regelmäßig vorgenommener "Verarbeitung gesellschaftlicher Diskurse" (ebd.) andererseits kaum trennen. Entsprechend greift der Autor im umfangreichsten Abschnitt seiner Interpretation ("Das Tagebuch als Schriftmedium", Kap. 3.2) auf Klemperers maßgebliche Leitmotive zurück, nämlich die Passagen zur deutsch-jüdischen Identität ("Autographie"), zur wahrgenommenen und dokumentierten Vox Populi, der Stimmung innerhalb der Bevölkerung ("Heterographie") sowie zum Alltag im Dritten Reich ("Historiographie"). Diese bilden, auch und gerade in ihrem Zusammenspiel und nicht lediglich einzeln betrachtet, bereits den Kern früherer Forschungsarbeiten, sodass sich über Sepps Thesen der "Bruchstückhaftigkeit der Klemperer-Rezeption" (25) und in deren Zuge angeblich ausgebliebener Quellenkritik (27) streiten ließe. [6]
Sepps Analyse erfolgt philologisch sorgfältig und stets eng anhand der relevanten Selbstzeugnisse Klemperers, über die Tagebücher hinaus bezieht er immer wieder Autobiografie und LTI als weitere Schriften in seine Überlegungen ein. [7] Mit dessen Selbstverständnis als penibel dokumentierender "Kulturgeschichtsschreiber" geht der Verfasser getreu seiner kulturwissenschaftlichen Perspektive streng um und betont, dass wir es nicht mit der "Faktizität der Notizen, sondern [deren] Interpretation" (101) zu tun hätten, dass die Texte keine "historiographische Norm" (253) repräsentierten - wohl wissend dank etwa der Studien von Hannes Heer [8], dass Klemperer nicht bloß glaubt, sondern bemerkenswert exakte Daten zu gesellschaftlichen Haltungen bzw. Stimmungen liefern vermag, ungeachtet seiner bedrängten Situation als im Judenhaus isoliertes, zunehmend bedrohtes Opfer des NS-Regimes: "Aus diesem Grund mögen die Klemperer-Tagebücher - obschon sie als historische Quellen stets kritisch hinterfragt werden müssen - ein bezeichnendes Licht auf das Ausmaß der Unterstützung des Regimes und der Mitwisserschaft vom Holocaust seitens der Zivilbevölkerung werfen." (259)
Zum Ende seiner Interpretation (Kap. 3.3) widmet er sich den Tagebüchern in ihrer Funktion als Interdiskurs und stellt erhellende Bezüge zur Philosophie- und Literaturgeschichte her. Unter Klemperers Referenzautoren greift er exemplarisch Voltaire und Rousseau auf, Goethe und Schiller zieht er als Nationaldichter heran, deren ideologische Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten den Patrioten Klemperer über das Kriegsende hinaus bekümmerte. Fundierte Passagen wie diese dokumentieren, mit welcher Akribie sich Sepp auf sein Material und dessen Zusammenhänge eingelassen hat, sowohl textübergreifend als auch textimmanent (z.B. der Exkurs zu den sogenannten "Papiersoldaten", die Klemperer schon als Kind sammelte und die er als regelmäßige Metapher für sein Archivieren ins Tagebuch einflicht): wie im Titel seiner Arbeit versprochen, bewegt er sich sorgsam vermessend auf und unter der Textoberfläche, agiert er als Topograf.
Ein in gesellschaftspolitischer Sicht spannend zu lesender "Nachklang" (Kap. 4), der Klemperer innerhalb des bundesdeutschen kulturellen Gedächtnisses verortet, seine Gesellschaftsstudien von den Thesen Goldhagens abgrenzt sowie ihn vor den Deutungsansätzen Martin Walsers u.a. zu schützen versucht, und ein Fazit schließen die Untersuchung ab.
Sepp reiht sich in die große Schar derer ein, die den immensen Wert von Klemperers Aufzeichnungen unmittelbar nach deren Publikation erkannt haben. Er spricht von einer "kritische[n] Genealogie der Moderne" (378) und verweist vollkommen berechtigt auf den "einzigartigen Beitrag" (324), den diese für unser heutiges Verständnis von der nationalsozialistischen Gesellschaft leiste. Mit seiner differenzierten kulturwissenschaftlichen Herangehensweise führt er viele bestehende Fäden innerhalb der Klemperer-Forschung zusammen und erreicht an einzelnen Stellen eine neue Tiefe der Auseinandersetzung mit diesem so hoch einzuschätzenden Material.
Anmerkungen:
[1] Jens Bisky: Anständig leben. In den Briefen des Romanisten Victor Klemperer spiegelt sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 137, München, 17./18.6.2017, 18.
[2] Karin Grossmann: Dass ich absolut deutsch bin. Weltberühmt wurde Victor Klemperer erst nach dem Tod durch seine Tagebücher. Jetzt erscheint erstmals ein Band mit Briefen. Er offenbart die Tragik des Dresdner Humanisten, in: Sächsische Zeitung, Dresden, 13.6.2017, 7.
[3] Victor Klemperer: Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen, hgg. von Walter Nowojski / Nele Holdack unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin 2017.
[4] Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, hg. von Walter Nowojski, Berlin 1995.
[5] Beispielhaft folgende Publikationen: Laurence Aubry / Béatrice Turpin (Hgg.): Victor Klemperer. Repenser le langage totalitaire, Paris 2012; Horst Heintze: Erinnerungen an einen homme des lettres namens Victor Klemperer, Berlin 2011; Denise Rüttinger: Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher des Victor Klemperer, Bielefeld 2011; Lothar Zieske: Schreibend überleben, über Leben schreiben. Aufsätze zu Victor Klemperers Tagebüchern der Jahre 1933 bis 1959, Berlin 2013.
[6] Umfassende Auseinandersetzungen mit den genannten Aspekten bieten u.a.: Hannes Heer (Hg.): "Im Herzen der Finsternis". Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit, Berlin 1997; Benedikt Faber: "Leben wie im Unterstand." Victor Klemperers deutsch-jüdische Existenz im Nationalsozialismus im Spiegel seiner biografischen Selbstzeugnisse (= Acta Wasaensia; 140 / Literatur- und Kulturstudien; I, Germanistik), Vaasa 2005.
[7] Victor Klemperer: Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881-1918, hg. von Walter Nowojski, Berlin 1996; Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1996.
[8] Hannes Heer: Vox populi. Zur Mentalität der Volksgemeinschaft, in: Mittelweg 36 (1996), H. 5, 19-31.
Arvi Sepp: Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945, München: Wilhelm Fink 2016, 531 S., ISBN 978-3-7705-5437-9, EUR 78,00
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