Bełżec, Sobibór, Treblinka. Die Bilanz dieser drei Lager ist unfassbar: Über 1,5 Millionen Menschen wurden hier zwischen März 1942 und November 1943 in Gaskammern erstickt, erschlagen oder erschossen. Vor allem Juden, aber auch mehrere Tausend Roma. Nicht einmal 150 der dorthin Deportierten überlebten.
In der deutschen Öffentlichkeit ist kaum etwas über diesen Teil des Holocaust bekannt, die "Aktion Reinhardt", wie die Ermordung der Juden des "Generalgouvernements" im SS-Jargon genannt wurde, nur wenigen ein Begriff. Ein deutschsprachiges Überblickswerk ist längst überfällig. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass Stephan Lehnstaedt dieses nun vorlegt. In dreizehn Kapiteln fasst er den aktuellen Forschungsstand zusammen: Vom Leben der polnischen Juden in den 1930er Jahren bis zum Gedenken an die Opfer heute. Die Biographien der Täter thematisiert er ebenso wie das Leben der Häftlinge in den Lagern. Lehnstaedt stützt sich vornehmlich auf die wissenschaftliche Literatur zum Thema. Es geht ihm darum, den Schleier des Vergessens und Verdrängens von der "Aktion Reinhardt" und ihren Opfern zu heben, die von den Tätern verwischten Spuren öffentlich sichtbar zu machen. Denn, so Lehnstaedts These, die Lager der "Aktion Reinhardt" stehen für das Wesen des Holocaust: Den ideologisch bedingten Massenmord ohne wirtschaftliche Ausbeutung der Opfer. Die Entscheidung dazu beschreibt er vor allem als ein Wechselspiel zwischen Peripherie und Zentrum: Immer radikalere und sich gegenseitig überbietende Initiativen der Täter vor Ort trafen auf die Zustimmung der NS-Führung, die ihrerseits immer wieder zum Mord aufrief. Lehnstaedt spiegelt damit die aktuelle Forschungsmeinung.
Nach dem Einmarsch in Polen im September 1939 begannen die Deutschen unmittelbar, die polnische Oberschicht umzubringen. Dies traf auch bereits Juden. Systematisch ermordet wurden sie indes noch nicht. Lehnstaedt beschreibt, wie die Deutschen ihre Besatzungspolitik schrittweise verschärften: Juden wurden aus Westpolen nach Osten deportiert, in Ghettos gezwängt, zunehmend entrechtet, ausgebeutet und misshandelt. Der Überfall auf die Sowjetunion bedeutete einen extremen Radikalisierungsschub: Nach einer Übergangsphase begann dort Ende Juli 1941 der systematische Massenmord. Seit Dezember desselben Jahres erstickten die Deutschen im westpolnischen Chełmno (Kulmhof) etwa 150.000 Juden und 5000 Roma in sogenannten Gaswagen. Am 13. Oktober 1941 erhielt der SS- und Polizeiführer in Lublin, Odilo Globocnik, den Befehl, die Juden in seinem Distrikt zu töten, im Juli 1942 dann alle Juden im Generalgouvernement.
Für dieses Vorhaben verließ sich die Koordinationsstelle in Lublin auf morderfahrenes Personal des "Aktion T4" genannten "Euthanasie"-Programms, der Ermordung Kranker und Behinderter. In den Lagern sollten jeweils etwa 15 bis 20 Deutsche und 100 bis 120 sowjetische Kriegsgefangene - von der SS "fremdvölkische Hilfswillige" genannt - gleichzeitig am Mord beteiligt sein. Zwischen den Deutschen herrschten enger Zusammenhalt und und flache Hierarchien. Die "Hilfswilligen" hingegen bekamen nicht selten zu spüren, dass man sie für Menschen zweiter Klasse hielt.
Am 17. März 1942 begann der Massenmord in Bełżec. Die Erfahrungen aus den ersten Wochen flossen in den Bau der beiden anderen Lager ein. Immer wieder fanden Umbauten statt, auch um die Mordkapazität zu erhöhen. Die Abläufe nach der Ankunft der Deportationszüge passten die Täter im Laufe der Zeit ebenfalls immer wieder an. Hier bleibt Lehnstaedt allerdings zu sehr an der Oberfläche. Mit dem Mythos eines "industriellen Massenmords" räumt er nicht auf. Die polnischen Juden wurden meist unter extremer Gewaltanwendung in die Gaskammern getrieben. In den Lagern spielten sich kaum beschreibbare Szenen ab: Die Täter schlugen, schossen, vergewaltigten, ergötzten sich an Wettbewerben im Morden von Säuglingen. [1]
Anfangs erstickten die Deutschen in Bełżec ihre Opfer mit Kohlenmonoxid aus Flaschen, wie schon bei der Ermordung Kranker und Behinderter im Reich. Im Frühjahr 1942 gingen sie dazu über, die Deportierten mit Motorabgasen zu töten. Wer nicht selbst in die Gaskammern laufen konnte, wurde an eigens eingerichteten Erschießungsstätten Opfer der Kugeln. Das gleiche Schicksal ereilte die Opfer, wenn es zu Störungen der Motoren bei den Gaskammern kam.
Die Leichen wurden zunächst verscharrt. Später ließen die Täter im Rahmen der "Aktion 1005" die Gruben wieder öffnen und die sterblichen Überreste unter freiem Himmel verbrennen. Krematorien gab es zu keiner Zeit. Diese und andere den Deutschen unliebsame Tätigkeiten mussten Häftlinge verrichten. Die Täter involvierten sie auch in die Ausraubung der Deportierten. Nicht selten wurden sie dabei Opfer exzessiver Gewalt. Ein Einsatz bei Gaskammern oder Massengräbern bedeutete für die Häftlinge nach kurzer Zeit immer den eigenen Tod.
Die Täter bereicherten sich persönlich und institutionalisiert am Eigentum der Opfer. Der tatsächliche wirtschaftliche Gewinn blieb indes gering. Doch war der Raub ohnehin nur ein Nebenprodukt, nie das eigentliche Ziel, wie Lehnstaedt betont.
Die Lager der "Aktion Reinhardt" wurden vereinzelt zur Ermordung der Juden aus Westeuropa herangezogen. Doch für das Gros der von dort Deportierten sollte Auschwitz das Ziel sein. Der Mordbetrieb in Bełżec wurde Ende 1942 eingestellt, Treblinka und Sobibór bestanden noch einige Monate weiter. Beide Lager wurden nach großen Aufständen 1943 geschlossen. Ihre Funktion war zu diesem Zeitpunkt ohnedem weitgehend erfüllt. Den Großteil der verbliebenen polnischen Juden erschossen SS und Polizei bei der "Aktion Erntefest". Kaum einer der bei den Aufständen Geflohenen sollte das Kriegsende erleben. Die Deutschen jagten sie unerbittlich. Viele wurden von der Lokalbevölkerung ausgeliefert, die später auch immer wieder in den Massengräbern nach Wertsachen suchte.
Die "Aktion Reinhardt" blieb kein Geheimnis. Sie erregte aber weder im Reich noch bei den Alliierten große Aufmerksamkeit. Auch nach 1945 änderte sich dies kaum. In Polen standen die Lager im Schatten von Auschwitz und dem Leid der nichtjüdischen Polen. Trotzdem verurteilten Gerichte einige "Hilfswillige" zu harten Strafen. Die Mehrzahl der in der Bundesrepublik angeklagten 44 Täter berief sich auf einen Befehlsnotstand und wurde freigesprochen. Die Beweisführung gestaltete sich zudem schwierig, da kaum Belastungszeugen überlebt hatten. Österreich und die DDR zogen nie einen Täter zur Verantwortung. Über die aktuelle Gedenkkultur in Deutschland und Polen fällt Lehnstaedt ein vernichtendes Urteil: Die "Aktion Reinhardt" habe darin schlicht keinen Platz. Ein - in Bezug auf Polen - weit positiveres Fazit ziehen die Beiträge eines kürzlich erschienenen Sammelbandes. [2]
Eine Überblicksdarstellung, die sich an ein breites Publikum richtet, muss notwendigerweise aussparen und zuspitzen. Lehnstaedts Werk hätte aber davon profitieren können, Leerstellen aufzuzeigen, die sich aus der Problematik und dem Mangel an Quellen ergeben. Das Buch vergibt zudem die Chance, den Topos vom "industriellen Massenmord" zu brechen. Das Töten war viel stärker von Gewalthandeln geprägt, als dies die Täter später glaubend machen wollten. Der Titel des Buches, der im Text wieder aufgegriffen wird, macht eine seltsame Hierarchisierung der Opfer und ihres Leids auf. Die Ermordung der europäischen Juden hatte keinen Kern. Sie war ein vielschichtiges Verbrechen mit Millionen Taten und Einzelschicksalen.
Diese Punkte schmälern Lehnstaedts Verdienst kaum. Das sprachlich gelungene Buch leistet einen wichtigen Beitrag dazu, das Bild des Holocaust in der Öffentlichkeit zu erweitern. Vielleicht vermag es sogar den Stein zu einem angemesseneren Gedenken an die Opfer der "Aktion Reinhardt" ins Rollen zu bringen. Nichts Geringeres ist dem Buch zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, Hamburg 2013, bes. 9f.; für das Beispiel Treblinka: Katharina Schmitten: "Eine Hölle voller Teufel". Täuschung und Gewalt im Vernichtungslager Treblinka, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (2014), 726-748.
[2] Jörg Ganzenmüller / Raphael Utz (Hgg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum, Köln / Weimar / Wien 2016.
Stephan Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München: C.H.Beck 2017, 207 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-70702-5, EUR 14,95
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