"Wir stehen jetzt vor einer Situation, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, also seit immerhin fast 70 Jahren, noch nicht gegeben hat", kommentierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 20. November 2017 das Scheitern der Vier-Parteien-Sondierungsgespräche nach der Bundestagswahl. Erstmals erscheint es möglich, dass die Bildung einer Koalitionsregierung nach einer Bundestagswahl misslingen könnte: eine ungewöhnliche Situation, die in den Medien ein großes Echo findet.
Am Grundsatz der Existenz von Koalitionsregierungen wird jedoch derzeit offenkundig nicht gerüttelt. Koalitionen gehören ganz selbstverständlich zum Grundgefüge des bundesdeutschen politischen Systems. "Der de facto-Koalitionszwang des Wahlrechts" (13) erscheint uns normal und niemand fordert mehr ernsthaft die Einführung eines Mehrheitswahlrechts, mit der man Koalitionsregierungen zur Ausnahme machen würde. Diskutiert wurde das Wahlrecht jedoch nicht nur während der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat, in denen es zu den umstrittensten Fragen gehörte, sondern immer wieder auch in der folgenden Zeit, vor allem während der ersten Großen Koalition unter Kiesinger.
Wer sich der Geschichte der Koalitionen in der Bundesrepublik zuwenden möchte, dem kann jetzt ein von dem Mannheimer Zeithistoriker Philipp Gassert und dem Rostocker Politikwissenschaftler Hans Jörg Hennecke herausgegebener Sammelband nachdrücklich empfohlen werden. Die beiden Herausgeber haben den Band nicht etwa passend zur Bundestagswahl und den womöglich antizipierten schwierigen Koalitionsverhandlungen lanciert. Er geht vielmehr aus einer Tagung der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus im April 2014 hervor, deren Aufhänger forschungsimmanente Fragestellungen waren, nicht zuletzt motiviert durch die von Holger Löttel vorgelegte Quellenedition "Adenauer und die FDP" [1], die zeigte, dass Adenauer "seine liebe Not und Mühe mit dem koalitionspolitischen Alltagsgeschäft hatte" (7), insbesondere, dass die FDP zwischen nationalliberaler und linksliberaler Ausrichtung zerrissen erschien und sich gegen den Kanzler zu profilieren versuchte.
Der Band richtet sich an unterschiedliche Adressaten. Er vereinigt nicht nur Zeitgeschichtsschreibung und historisch interessierte Politikwissenschaft, sondern kann, etwa wenn man die von Hans Jörg Hennecke in seinem Fazit zusammengestellten Strategien zur Bewältigung des Misstrauens und die Notwendigkeit der Improvisation in Koalitionen liest, auch für Praktiker der Politik von Interesse sein. Das gilt insbesondere auch für den Beitrag von Carsten Giersch, der Koalitionsverhandlungen aus spieltheoretischer Sicht betrachtet.
Diesem Beitrag und einem historischen Längsschnitt von Philipp Gassert folgen sieben chronologisch geordnete Beiträge über die Koalitionen von Adenauer bis Merkel; abgeschlossen wird der Band mit der Aufzeichnung eines Zeitzeugengesprächs mit ehemaligen Bundesministern von CDU, CSU und FDP. Betrachtet werden jeweils die Besonderheiten der Koalitionsbildung, das Koalitionsmanagement - also die Kommunikation der Koalitionspartner - und damit verbunden die jeweiligen Krisen der Zusammenarbeit.
Haben wir uns daran gewöhnt, dass zur Bildung einer Koalition aufwändige Verhandlungen geführt werden, so zeigt der Rückblick, dass dies keineswegs immer selbstverständlich war. Die erste Koalitionsregierung unter Adenauer kam ohne formalisiertes Verfahren aus, ihr Zustandekommen basierte im Wesentlichen auf einem Briefwechsel. Die Entscheidung für eine bürgerliche Koalition bedeutete dabei die wichtigste Weichenstellung, für die Adenauer 1949 in Franz Blücher einen Ansprechpartner bei den Liberalen hatte. Die Regierungsbildung 1961 dagegen gestaltete sich als die schwierigste der Adenauer-Zeit. Der Kanzler wurde nun sogar erstmals zur "Abfassung eines Koalitionsabkommens" (60) gezwungen, was er als problematisch empfand. In der Praxis hatte dieses Abkommen jedoch wenig Bedeutung. Bezeichnend ist, dass Ludwig Erhard, als er 1963 die Kanzlerschaft übernahm, gar nicht bewusst war, dass eine solche Vereinbarung existierte, obwohl er zuvor Bundesminister gewesen war.
Konrad Adenauer, dessen Verhältnis zum Koalitionspartner FDP Holger Löttel als "unsentimental und instrumentell" (53) bezeichnet, legte ohnehin Wert darauf, seine Richtlinienkompetenz durchzusetzen. Die kurze Regierungszeit Ludwig Erhards "lässt sich als eine permanente Folge von Koalitionskrisen darstellen" (95), wie Tim Geiger darlegt. Zum Streit kam es etwa in deutschland- und außenpolitischen Fragen, bei der Verjährungsfrage für Mord und anlässlich der Wiederwahl des Bundespräsidenten Heinrich Lübke, der letztlich mit den Stimmen der SPD gegen die FDP gewählt wurde und sich in der Folge für eine Große Koalition starkmachte, zu der es 1966 dann auch kam.
Gerade in der Zeit dieser ersten Großen Koalition veränderte sich das Selbstverständnis der Koalitionsregierungen. Die erstmalige Beteiligung der Sozialdemokratie an der Regierungsverantwortung auf Bundesebene erforderte vertrauensbildende Maßnahmen und Absprachen. Der so genannte "Kreßbronner Kreis", dessen Bedeutung Stefan Marx, der Autor des entsprechenden Aufsatzes im Sammelband, schon in einer Edition gewürdigt hat, wurde zum ersten effektiven und regelmäßig tagenden Absprachegremium. [2] Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers wurde dabei neu konturiert. Diese "sollte man innerhalb einer Großen Koalition nicht überschätzen. Es gibt keine Richtlinien gegen Brandt und Wehner" (157), wird Helmut Schmidt zitiert.
Eine "ausgeprägte Bereitschaft zum Dialog, um Konflikte und Krisensituationen auf kommunikativem Weg zu entschärfen" (184) war den von Meik Woyke analysierten sozial-liberalen Koalitionen inne. Helmut Kohl schien seinen Wunschkoalitionspartner FDP phasenweise besser zu behandeln als die eigene Partei. 1998 wurde der rot-grüne Koalitionsvertrag mit "in öffentlicher Zeremonie zelebrierten und inszenierten Unterzeichnungen" (23) medial gepuscht, was jedoch nicht verhinderte, dass die Realpolitik unter Kanzler Schröder zum Leidwesen der Grünen "auffällig stark durch den persönlichen Zugang zum Kanzler geprägt und eben nicht durch verbindliche Absprachen institutionalisiert" (240) wurde, was Hans Jörg Hennecke in seinem Beitrag belegen kann.
Insgesamt kann man im Laufe der Jahre einen "sehr deutlichen Trend zur Formalisierung von Koalitionsverhandlungen durch bestimmte Verhandlungsformate und Entscheidungsverfahren" (315) nachvollziehen. 1980 wurde "das Aushandeln und Publizieren eines Koalitionsvertrages als feste Regel herausgebildet" (323) Einige Verfahren und Usancen des Koalitionsmanagements änderten sich. So war bis 1965 etwa ein "Vetorecht der Koalitionspartner in Personalfragen" (321) zu beobachten, was zu Konflikten und persönlichen Scharmützeln führte. Kanzlerin Angela Merkel habe dagegen durch die inzwischen etablierten "Spielregeln der Koalitionsdemokratie [...] eingeschränkte Handlungsspielräume" (255) bei der Personalauswahl. Das ursprünglich rein symbolische Amt des Vizekanzlers wurde immer wichtiger und 2005 "durch Zuordnung eines Staatssekretärs und einiger Stabsstellen organisatorisch gestärkt" (324).
Mit dem Abdruck des Zeitzeugengesprächs mit Michael Glos, Klaus Kinkel und Jürgen Rüttgers versuchen die Herausgeber, ein lebendiges Bild für den allgemein interessierten Leser zeichnen. Man solle sich vorstellen, "wie die drei Zeitzeugen und Moderator Willi Steul in der Biedermeierecke in Adenauers Wohnzimmer unter einem altmeisterlichen Gemälde beisammensaßen und beim Ausblick über das Rheintal ins Erinnern und Fachsimpeln gerieten"(8). Zu beurteilen, ob die komplette Wiedergabe mit allen Anekdoten, Zwischenbemerkungen, Nachfragen und Worthülsen dies erreicht, ist Geschmackssache.
Insgesamt überzeugt der Sammelband vor allem deshalb, weil für die einzelnen, allesamt gelungenen Aufsätze ausgesprochene Kenner der jeweiligen Epoche, des Forschungsstandes und der Primärquellen gewonnen werden konnten. Gut eingebundene Tabellen und Übersichten machen das Buch gleichsam zu einem Nachschlagewerk. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, insbesondere durch die quellennahen Einblicke in die Kommunikationsprozesse der Koalitionen, die letztlich ein Spiegel der Entstehung und Festigung der bundesdeutschen politischen Kultur sind.
Anmerkungen:
[1] Rudolf Morsey / Hans-Peter Schwarz (Hgg.): Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe. Adenauer und die FDP, bearbeitet von Holger Löttel, Paderborn 2013.
[2] Stefan Marx (Bearb.): Der Kreßbronner Kreis. Die Protokolle des Koalitionsausschusses der ersten Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD, Düsseldorf 2013.
Philipp Gassert / Hans Jörg Hennecke (Hgg.): Koalitionen in der Bundesrepublik. Bildung, Management und Krisen von Adenauer bis Merkel (= Rhöndorfer Gespräche; Bd. 27), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 337 S., ISBN 978-3-506-78524-4, EUR 49,90
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