Rund um das Lutherjahr macht man manch überraschende Beobachtungen. Eine davon ist, dass es im Angesicht des Reformationsjubiläums vor Päpsten nur so wimmelt: in Ausstellungen, Konferenzen, Vorträgen und natürlich in Büchern. Volker Reinhardt und der C. H. Beck-Verlag bringen gleich alle 266 nummerierten römischen Bischöfe - nicht gezählt die ordinalzahllosen Pontifices zweifelhafter Akzeptanz - der Kirchengeschichte in Stellung. Reinhardt beleuchtet das schon rund 2000 Jahre währende äußere und innere Werden der römischen Kirche. Er führt den Betrachter aus deren nebulösen lokalen Anfängen zur Monarchie des hochmittelalterlichen Papsttums, den gesamten Weg durch die von theologischer Orientierung, politischer Ermächtigung und ethischer Verirrung erzeugten Zerreißproben entlang, vorbei an der Unreformierbarkeit, die als Reaktion die Reformation provozierte, durch die Staatswerdung des Glaubens hindurch und zu all den Relativierungen, die Christentum und Kirche in der modernen Welt erfahren haben. Ein gewaltiges Unterfangen, das ein Monument aus Papier erschuf. Es blickt den Leser vom Schreibtisch an mit dem impliziten, aber klaren Ausruf: "Hier liege ich, ich kann nicht anders"!
Das Buch ist chronologisch-biografisch aufgebaut, lässt im Prinzip keinen Amtsträger aus. Der Verfasser diskutiert in Streitfragen der rechten Besetzung des Stuhles Petri zudem wohltuend sachlich die jeweilige Situation. Reinhardt bildet 14 Sinnabschnitte, die er mit grundlegenden Charakteristika überschreibt ("Neuanfang, Renaissance-Kultur und Krise. Von Martin V. zu Paul III. [1417-1534]" oder "Schwankende Haltungen zur Gegenwart. Von Benedikt XV. bis Franziskus I. [1914 bis heute]"). Dabei nimmt er nach größeren Schritten in den älteren Epochen zusehends jeweils rund 100 Jahre in einem Kapitel in den Blick. Der unbeirrbare Marsch entlang der Papstliste endet in einer Zusammenstellung von Aussagen und Grundhaltungen des aktuellen Pontifex Franziskus, die beinahe Prognostisches durchschimmern lässt: Hoffnung in Sachen Wiederzulassung Wiederverheirateter zu den Sakramenten oder eine Veränderung des erstarrten kurialen Apparates. Doch der letzte Satz des Buches weist klar in die Geschichte des Papsttums zurück: Auch hierfür lassen sich historische Vorbilder, Denk- und Handlungsmuster in der knapp 2000-jährigen Geschichte des Papsttums finden.
Zur besseren Orientierung darin sind dem Buch mehrere Karten Roms und des Kirchenstaats beigegeben sowie eine "Liste der Päpste und Gegenpäpste" mit ihren ermittelbaren Amtszeiten. In ihr sind die "Gegenpäpste" in Anführungszeichen angeführt, und die Bedingtheit ihrer Einordnung als unrechtmäßig wird ebenso im Vorspann thematisiert wie der Konstruktcharakter der Papstliste überhaupt. Und sie lässt konsequenterweise auch die Zählung von Petrus (Nr. 1) bis Franziskus (Nr. 266) hier weg, welche die legitimatorisch bedeutsame Suggestion einer ununterbrochenen Folge der Amtsträger seit Anbeginn der römischen Kirche stützt. Literaturhinweise für größere Zeitzusammenhänge, eine ausführliche Bibliografie sowie Bildnachweise und ein Personenregister (mit ungleichmäßig verteilten identifizierenden Zusätzen) vervollständigen das stattliche Opus.
Ein solcher Spagat vom Monophysitismus bis zu Mussolini und darüber hinaus verlangt dem Autor wie den Leserinnen und Lesern allerhand ab. Das Buch ist sorgfältig recherchiert und setzt gezielt thematische Schwerpunkte, ohne aus diesen eine Entwicklungsthese der Institution Papsttum abzuleiten oder eine solche gar aufzudrängen; es bleibt konsequent (gruppen-)biografisch konstruiert. Es unterscheidet sich dadurch wohltuend von Produkten auf dem Markt, die ihre betont affirmative, ihre vermeintlich aufklärerische oder nur platt romkritische Attitüde herausstellen. Ein weiteres Qualitätsmerkmal des Werks ist die Sprache, die präzise und doch elegant gewählt ist. Ironische Untertöne lassen die Distanz zu mancher Entwicklung der Jahrhunderte oder zumindest zu deren Präsentation erkennen; hier hat die jahrzehntelange Nepotismusforschung des Autors fraglos und zu Recht ihre mentalen Spuren hinterlassen. Das Bild, das den Schutzumschlag ziert, ist hier vielleicht sogar symptomatisch zu verstehen: Es zeigt keinen strahlend charismatischen Pontifex, für den es durch die Jahrtausende genügend Bildbeispiele gäbe, sondern Innozenz X., den Diego Velázquez um 1650 eher als Finsterling im Rüschenhemd verewigte.
Es ist müßig, auf prononcierte Wertungen, Zuspitzungen oder auch Verkürzungen des Autors im Detail einzugehen, welche die Leserschaft je nach eigenen Kenntnissen und Interessen in einer solch weitgespannten Synthese zwangsläufig feststellen wird. Zu den bemerkenswerten Folgen der biografischen Zentrierung gehört indes der Verzicht auf strukturelle Grundlegungen. Themen wie Titelkirchen, Kardinäle und Kardinalskollegium, Konzil, Jurisdiktionsprimat, Ablass oder Papstwahl, die in anderen Darstellungen als tragende Pfeiler des Verständnisses von Papsttum und dessen Funktionsweise fungieren, erfahren keine zusammenhängende Behandlung. Das ist zwar konsequent (wie schon die Beschränkung allein auf ein Personenregister), lässt aber ein wenig aus dem Blick geraten, dass die einzelnen Päpste sich ja zusehends in ein fester werdendes institutionelles und historisches Gefüge einzufinden hatten, und setzt zudem voraus, dass die Leser sich das Grundwissen um solche Phänomene notfalls selbst erarbeiten mögen. Um ein Lehrbuch der Papstgeschichte, dies sei hervorgehoben, handelt es sich bei dem papalen Wälzer nicht.
Manches der zur Gegenwart hin zahlreicheren und sorgfältig ausgewählten Bilder wäre in farbiger Ausführung noch eindrucksvoller, und wohltuend empfände man ein leiseres Beharren auf den italienischen Namensformen, die im deutschen Fließtext gelegentlich doch ein wenig manieriert wirken. Aber das ändert nichts daran: Man liest gerne in dieser sehr fundierten und doch nicht erschlagenden, zudem präzise und elegant präsentierten Papstgeschichte! Bei all seiner Aufrichtigkeit ist dieses Lob aber in gewisser Weise ein trojanisches Pferd. Denn so genussvoll die dosierte partielle Lektüre ist, so ratlos lässt den Rezensenten die Frage zurück, ob man auch das ganze Buch gerne lesen mag. Der mächtige Band, den Volker Reinhardt hier vorgelegt hat, steht zwischen Haller und Pastor auf der einen Seite, die - obwohl sie nur ausgewählte Epochen behandelten - den Stoff seinerzeit in mehreren Bänden ausbreiteten, und jenen schmalen Abriss-Büchern, in denen die einzelnen Päpste bestenfalls briefmarkengroße Porträts in einem Vademecum darstellen. Demgegenüber nimmt sich der Verfasser hier hinreichend Raum zu abgewogener Darstellung und Analyse, deren kapitelweise Kenntnisnahme bereichernd und manchmal fesselnd ist. Der Versuch einer konsequent fortschreitenden Lektüre offenbart dagegen die Schwierigkeiten des auf Lückenlosigkeit angelegten Konzepts, denn nicht immer gibt es Spannendes oder gibt es überhaupt etwas zu berichten. Das gilt für manche römischen Bischöfe der Spätantike und des Frühmittelalters, über die kaum etwas bekannt ist, wie für kurzlebige Pontifices wie die drei der Jahre 1590-1592, die zu nennenswerten Handlungen nicht vordrangen. Der Pontifikat Lucius I. (253-254, 38) füllt mühevoll anderthalb Zeilen. Namensnennung und Eckdaten sind an diesen Stellen Pflichtübungen geringsten Wertes. Hier, aber nur hier, wird apostolische Sukzession ermüdend.
Volker Reinhardt: Pontifex. Die Geschichte der Päpste. Von Petrus bis Franziskus, München: C.H.Beck 2017, 928 S., 109 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-70381-2, EUR 38,00
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