Zu den runden Jubiläen des Jahres 1968 erschienen zahlreiche Bücher unterschiedlichen Formats: einerseits die, die mit überschaubarem Umfang und lesbarem Stil eine breitere Leserschaft adressierten und andererseits solche, die die wissenschaftliche Debatte durch neue Perspektiven erweitern wollten. Thomas Großböltings Buch über 1968 in Westfalen strebt beides an. Der Autor möchte "nach der Bedeutung und der Wirkung von '1968'" (7) fragen, um "zu einer innovativeren, vielleicht auch abgewogeneren Einschätzung der Jahre am Ende der 1960er vorzustoßen" (8). Sehr zu begrüßen ist dabei die Abwendung von den tatsächlich zu häufig pars pro toto genommenen Protestzentren. Zwar wächst die Anzahl der lokal- oder regionalgeschichtlichen Arbeiten, aber in den gängigen Narrativen finden sie bislang kaum Berücksichtigung. Der Fokus des Buches auf Westfalen ist daher auch mit der richtigen Annahme begründet, dass für eine gesamtgesellschaftliche Einschätzung des Phänomens der räumliche Blick der Forschung geweitet werden muss.
Dafür nimmt Großbölting seinen Gegenstand nach einer Einleitung, in der "1968" und Westfalen definiert werden, in drei Kapiteln in den Blick. Das erste, "Von der Greater Bay Area nach Westfalen", fragt nach der Einbettung der westfälischen Proteste um 1968 in nationale und globale Dynamiken. Während das Free Speech Movement an der Universität in Berkeley und die Hippies aus San Francisco keine direkte Bedeutung für "1968" in Westfalen gehabt hätten, gelte das für die "Protesttraditionen in Westfalen" (33) nicht. In begrüßenswertem Widerspruch zu der verbreiteten Annahme "1968" sei ein Bruch in der deutschen Bewegungsgeschichte gewesen, verweist Großbölting auf die Verbindungen zu den vor allem von der Arbeiterbewegung getragenen Protesten im Ruhrgebiet gegen Aufrüstung oder für bessere Arbeitsbedingungen. Als Schrittmacher der Proteste des "kurzen 68" in Westfalen werden dann die zentralen nationalen Daten und Dynamiken präsentiert: Die Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 und die Proteste gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968.
Im zweiten Kapitel, "Akteure und Bewegungen im Jahr '1968' und danach", geraten drei Felder des Protestes um "1968" in den Blick: Die Hochschulen als Gegenstand der Studentenproteste, das Aufbegehren von Schülerinnen und Schülern, Lehrlingen und Konfirmandinnen und Konfirmanden in den jeweiligen Institutionen und die sich wandelnde (Protest-)Kultur im Kontext von "1968". Die Studierenden zeichnet Großbölting dabei als vergleichsweise spät politisierte Nachzügler, die an den westfälischen Hochschulstandorten dennoch "Schrittmacher des Protests" (71) gewesen seien. Die dann folgende Berücksichtigung der noch immer im Schatten der Studierenden stehenden Lehrlings- und Schülerinnen- und Schülerproteste vermeidet diesen einseitigen Fokus. Doch schreibt sich in den Thesen, dass "Lehrlinge eher Objekt als Subjekt der Protestbewegung" (83) gewesen seien und dass "ein Großteil der Arbeiter und wohl auch die meisten Lehrlinge [...] Abstand zu den Ideen und Praktiken von '1968' hielten" (85) die Perspektive der Studierenden fort. In Lehrlingsgruppen und auch darüber hinaus in der Gewerkschaftsjugend lässt sich hingegen gut beobachten, wie junge Lehrlinge, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte Impulse von "1968" aufgriffen und dabei in Abgrenzung und zugleich Anlehnung an die Studentenbewegung eigenständig handelten. [1] Im letzten Unterkapitel zeichnet der Autor dann ein buntes Panorama der Jahre nach "1968" von den sicher noch zu wenig beachteten Fahrpreisprotesten, der Drogenszene bis hin zu Veränderungen in der Kultur.
Mit dem dritten Kapitel, "Räume der Gegenkultur", begibt sich die Darstellung noch weiter in die 1970er Jahre hinein. Untersucht werden linke Buchläden, die neue Frauenbewegung und alternative Wohnformen wie Wohngemeinschaften, Kommunen und Hausbesetzungen. Das wirft die unbeantwortet bleibende Frage auf, ab wann angesichts der Umbrüche im linken Feld Anfang der 1970er Jahre und dann noch deutlicher ab 1977 [2] analytisch zwischen einem "langen 1968" und neuen Bewegungsformationen unterschieden werden müsste. Dennoch ist auch dieses Kapitel sehr lesenswert, zeigt es doch (nicht nur) am Beispiel der Frauenbewegung deutlich, dass der Blick der Bewegungsforschung, will sie die gesellschaftliche Relevanz ihres Gegenstands fassen, eher "viele kleine Aufbrüche [...] [i]n der Fläche" als "dramatische Ereignisse oder charismatische Frontfrauen" (117) in den Blick nehmen muss.
Das Buch endet mit einem abwägend argumentierenden Resümee, das das "lange 1968", mit den "vielen kleinen Konflikte[n] und den daraus resultierenden Regelverschiebungen" (139), als bedeutsam für "1968 in Westfalen" einordnet. Da Großbölting die Bedeutung der Proteste für den damit zusammenhängenden Wertewandel jedoch deutlich relativiert, sägt er auch an der Relevanz des Gegenstandes "1968" für die Region.
Alles in allem ist "1968 in Westfalen" ein sehr lesenswertes Buch über sozialen und kulturellen Wandel in der Bundesrepublik, das mit Blick auf Protest und alternative Lebensformen in der Provinz zeigt, wie sehr es von Zuschreibungen und Blickwinkeln abhängt, was unter "1968" verstanden wird. Letztlich belegt diese Sichtweise nur, dass die von Großbölting eingeforderte und beispielhaft umgesetzte Perspektiverweiterung der Forschung zu "1968" notwendig ist. Herausgearbeitet zu haben, wie die Entwicklung sowohl des "kurzen" und vor allem des "langen 1968" in der Provinz von den Zentren abhing und sich zugleich durch Eigendynamiken davon unterschied, ist wohl das größte Verdienst des Buches.
Weniger überzeugend ist hingegen der Versuch, dem Untersuchungsraum eine Einheitlichkeit zuzuschreiben. Da als Kriterium letztlich vor allem die "Absetzung von der Großstadt" (15) gilt, müssen auch westfälische Ruhrgebietsstädte wie Bochum und Dortmund der Provinz zugeschrieben werden. Dabei liegt gerade in der Widersprüchlichkeit der räumlich und politisch miteinander verbundenen Untersuchungsschwerpunkte ein besonderer Reiz des Buches. Die Prägung des Ruhrgebietes durch die Proteste und Organisationen der Arbeiterbewegung sowie die relative Bedeutung der Ostermarschbewegung, die Großbölting einleitend durchaus erwähnt, hätten hier zur Differenzierung herangezogen werden können.
Jedoch bleiben bei 170 Seiten notwendigerweise Lücken. So ist die Lektüre nicht nur für regionalgeschichtlich Interessierte ein Gewinn. Den Forschenden zu "68" könnte sie die Perspektive erweitern, und der sehr gute Stil wird dem schmalen Band sicher auch Leserinnen und Leser außerhalb Wissenschaft verschaffen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Knud Andresen: Gebremste Radikalisierung. Die IG Metall und ihre Jugend. 1968 bis in die 1980er Jahre, Göttingen 2016, und David Templin: "Lehrzeit - keine Leerzeit!" Die Lehrlingsbewegung in Hamburg 1968-1972, München 2011.
[2] Vgl. Michael März: Linker Protest nach dem Deutschen Herbst. Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des "starken Staates", 1977-1979, Bielefeld 2012.
Thomas Großbölting: 1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung (= Regionalgeschichte Kompakt; Bd. 1), Münster: Ardey-Verlag 2018, 172 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-87023-404-1, EUR 13,90
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