Michael MacDonald hat mit dem "Oxford Handbook of Rhetorical Studies" ein in jeder Hinsicht gewichtiges Werk mit 60 Beiträgen ausgewiesener Fachleute und insgesamt gut 800 Seiten Umfang vorgelegt. Das Handbuch ist nutzerorientiert konzipiert und äußerst gründlich redigiert. Es umfasst die Geschichte der Redekunst, ihrer Praxis und theoretischen Reflexion von der klassischen Antike bis in die Gegenwart. Der Herausgeber legt seinem Projekt eine eher lockere Definition von Rhetorik zugrunde, die er als "the art of effective composition and persuasion in speech, writing, and other media" (5) begreift. Dadurch ergibt sich ein Kaleidoskop von Gegenständen und Fragestellungen, die mal mehr, mal weniger eng um die unterschiedlichen Formen und Methoden der Einflussnahme auf ein gegebenes bzw. durch Techniken der Rezipientenführung zu konstituierendes Publikum kreisen.
Ausweislich seiner programmatischen Aussagen im Einleitungskapitel zielt MacDonald auf eine denkbar breit aufgestellte Leserschaft: von undergraduates bis hin zu etablierten Forschenden auf dem Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften, die einen Zugang zum Feld der Rhetorik suchen (3). Zugleich soll das Handbuch als Begleitlektüre für die universitäre Lehre einsetzbar sein. Diese Ausrichtung kommt auch in der Beigabe eines Glossars zum Ausdruck, das rhetorische Grundbegriffe und einige (allerdings recht arbiträr ausgewählte), Stilmittel erläutert. Eine Zeitleiste erfasst zudem "keyworks of rhetorical theory", von den nebulösen Figuren aus der Frühzeit griechischer Rhetorik, Teisias und Korax, bis zu einem führenden Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts, Marshall McLuhan.
Der inhaltliche Teil des Handbuchs ist in sechs große Teile gegliedert, die historischen Epochen entsprechen (Griechenland, Rom, Mittelalter, Renaissance, Frühneuzeit/Aufklärung, Neuzeit, Moderne/Gegenwart). Im letzten Teil finden auch übergreifende Beiträge ihren Platz (Rhetorik und Semiotik, Umwelt, digitale Medien etc.). Dieser Aufbau spiegelt zugleich eine Beschränkung (wenn man davon in diesem Zusammenhang überhaupt reden kann) auf den (alt)europäischen und nordamerikanischen Kontext. Angesichts der Diversität vergleichbarer Phänomene in anderen Kulturkreisen (vgl. die Ausführungen im Beitrag von Edward Schiappa) erscheint das legitim. Die konzeptuelle Grundentscheidung für ein in diesem Sinne "klassisches" Rhetorikverständnis schlägt sich nicht zuletzt in dem Umstand nieder, dass fast ein Drittel des Bandes dem Altertum gewidmet ist.
Trotz des grundsätzlich diachronen Aufbaus ist ausdrücklich auch eine synchrone Annäherung an das Wesen und die Erscheinungsformen des Rhetorischen vorgesehen (2). Hierzu wurden die einzelnen Teile möglichst symmetrisch aufgebaut. So können die Leserinnen und Leser in jeweils mit "Rhetoric and Politics" überschriebenen Beiträgen den politischen Ort der Rede von der Antike bis in die Neuzeit verfolgen. Ähnliches gilt beispielsweise für die Verbindung von Rhetorik und Recht bzw. Rhetorik und Pädagogik.
Aufgrund der gebotenen Kürze dieser Besprechung ist es nicht möglich, auf die einzelnen Beiträge gesondert einzugehen. Für einen Überblick sei auf die hilfreichen Zusammenfassungen des Herausgebers verwiesen (6-26). Nimmt man aber das Angebot wahr, das Handbuch sowohl diachron als auch systematisch zu lesen, so werden die verschiedenen Ansätze der Beitragenden besonders augenfällig. Die schwierige Aufgabe der Ansprache derart ausdifferenzierter Adressatenkreise wie in diesem Projekt wird erwartungsgemäß sehr unterschiedlich gelöst.
Zwei Beispiele aus den Beiträgen zur Antike mögen dies verdeutlichen: Edward M. Harris gibt im griechischen Teil der Analyse des Verhältnisses von Rhetorik und Politik eine auch für Anfänger gut geeignete Einführung in die attische Demokratie und konzentriert sich dabei auf den Stellenwert der deliberativen Rede vor der Volksversammlung - ohne freilich die Gerichtsrhetorik aus dem Blick zu verlieren. Hilfreich für das Verständnis ist insbesondere seine Betonung des strukturell integrativen Charakters athenischer Politik gegenüber der eher "aggregativen" Funktionsweise moderner repräsentativer Demokratien. Diese Unterscheidung verweist auf den Umstand, dass Rhetorik in den heutigen parlamentarischen Systemen eher der Schließung der eigenen Parteireihen dient als der Gewinnung einer übergreifenden Mehrheit in der und durch die Rede vor dem Volk. Harris schließt an diese grundlegende Diagnose eine Auswertung der wesentlichen Themen, Argumentationslinien und Prinzipien politischer Rede in den griechischen Poleis an. Um den Blick zeitlich etwas zu weiten: Ähnlich in Herangehensweise und Zuschnitt gestaltet auch Virginia Cox ihren sehr lesenswerten Artikel zum Mittelalter, in dem sie den Stellenwert nicht nur des Rhetorischen, sondern auch des Politischen in den betreffenden Gesellschaften neu vermisst.
Das römische Gegenstück zu Harris' Beitrag stammt aus der Feder von Joy Connolly. Auch hier wird der Zusammenhang zwischen der Struktur des politischen Systems und der Form der öffentlichen Rede, vor allem aber auch ihrer Theoretisierung hergestellt. Souverän handelt die Verfasserin die institutionellen Besonderheiten der römischen Republik mitsamt der Kontroverse um ihren demokratischen oder oligarchischen Charakter in wenig mehr als einer Seite ab. Ausgangspunkt für alles Weitere ist die Erkenntnis, dass die Rede vor der Öffentlichkeit immer auch ein Risiko und nicht allein ein Herrschaftsmittel darstelle. Aufgabe des Orators sei es, die unterschiedlichen Weltentwürfe von Elite (Redner) und Plebs (Zuhörer) miteinander zu vermitteln. Aus dieser kommunikativen Grundkonstellation leite sich die "agentic capacity" (185) des einfachen Volkes ab, das nämlich als Publikum über die Macht verfüge, Zustimmung und Anerkennung zu gewähren oder zu entziehen. Der Rhetorik komme, so die Verfasserin, in diesem Modell eine primär gemeinschaftsbildende und -stabilisierende Funktion zu. Um die notwendige Verbindung zum Publikum herzustellen, stand dem Redner die Technik der Charakter-Projektion (ethos) zur Verfügung, insbesondere aber auch die qua Selbstaffizierung herbeizuführende Erregung von Emotionen (pathos). Beide Instrumente setzten für ihre auf Identifikationsmechanismen beruhende Wirksamkeit fluide, situative Identitätsentwürfe bei gleichzeitiger Orientierung am sensus communis der römischen Bürger voraus. Connolly versucht damit, eine Beziehung zwischen der so entstehenden Pluralität von Rollenentwürfen und dem ciceronischen Ideal der Mischverfassung herzustellen - sprich: die ideale Rhetorik für den idealen Staat nachzuzeichnen.
In dieser Gegenüberstellung der spezifischen Zugriffsweisen auf das Thema "Rhetorik und Politik" zeigen sich die mannigfachen, jeweils für sich überzeugenden Möglichkeiten dieses Bandes - sichtbar wird aber auch die unterschiedlich hohe Komplexität der Argumentation. Die Vielfalt des vorliegenden Handbuchs erweist sich auch in zwei weiteren Abschnitten, von denen der eine in sprachlicher Hinsicht, der andere bezüglich der Perspektiven interdisziplinären Forschens bemerkenswert ist: Erik Gunderson widmet dem antiken Deklamationswesen einen Beitrag, der in seiner Lebendigkeit und Brillanz mit den antiken Matadoren der Schaurede problemlos in Konkurrenz treten kann. Literaturwissenschaftlich interessierten Leserinnen und Lesern sind schließlich dringend Ruth Webbs Überlegungen zum Verhältnis von Rhetorik und fiktionaler Literatur zu empfehlen, die insbesondere für die Analyse nicht nur antiker Erzähltechnik wichtige Anregungen bieten.
Nicht alle Abschnitte des Bandes sind für die angestrebten Adressatenkreise gleich zugänglich, und nicht immer entsprechen sich Kapitelüberschrift und Inhalt - wer nur nach den Titeln geht, dem entgehen manche Perlen. Auch hier nur zwei Beispiele: Laurent Pernots Abschnitt zur Zweiten Sophistik vermittelt in der Tat einen gehaltvollen Einblick in den Themenbereich, bietet aber vor allem eine glänzende Analyse der kaiserzeitlichen Epideiktik. Und Catherine Steels Darlegungen zu "Rhetoric and Pedagogy" in Rom geben weniger eine Zusammenschau des römischen Bildungssystems (wofür man den Beitrag William Dominiks konsultieren möge) als sie eine exzellente Untersuchung der Tiefenstrukturen von Ciceros Schrift de oratore darstellen.
Insgesamt liegt hier ein in seiner schieren Materialität entgegen der Benennung zwar recht unhandliches, jedoch informatives und in vielen Teilen enorm anregendes Kompendium vor. Skepsis bleibt hinsichtlich der extrem heterogenen Zielgruppen. Viel eher jedenfalls als ein Textbuch für die Lehre ist dieser Band ein Begleiter für diejenigen, die sich auf eine ausgedehnte Reise durch das Reich der Rhetorik einlassen und dabei den "Luxus" leisten können, auf manchem vermeintlichen Umweg zu wertvollen Inspirationen für die eigene Arbeit zu gelangen.
Michael J. MacDonald (ed.): The Oxford Handbook of Rhetorical Studies, Oxford: Oxford University Press 2017, XXIV + 819 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-973159-6, GBP 97,00
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