Die Erforschung der Geschichte des antiken Makedonien hat in der letzten Forschergeneration gewaltige Fortschritte gemacht, nicht zuletzt wegen der Intensivierung der archäologischen Untersuchung von bedeutenden Kulturstätten. Bisher lagen jedoch die Schwerpunkte der Forschung dort, wo es das meiste neue Quellenmaterial zu alten Fragestellungen gibt, nämlich die Königszeit sowie die nachaugusteische römische Kaiserzeit. Frank Daubner hat sich nunmehr vorgenommen, die "Lücke" zu schließen, und bietet eine eingehende Abhandlung über die Periode zwischen der Niederlage des letzten makedonischen Königs Perseus sowie seiner Absetzung von der Macht im Jahre 168 v. Chr. und dem Tode des Kaisers Augustus.
Daubners Hauptthese besteht darin, dass die Neuordnung Makedoniens durch den Sieger der Schlacht bei Pydna, L. Aemilius Paullus, hauptsächlich auf die Zerstörung des Einflusses der traditionellen städtischen und höfischen Elite der Königszeit hinzielte. Dies geschah im Wesentlichen durch die Verschleppung größerer Zahlen von für die königliche Staatsordnung maßgeblichen Männern nach Italien sowie eventuell - so Daubner - durch die Auswanderung nach Pergamon oder das ptolemäische Ägypten (wobei die Belege für Auswanderung keinesfalls eindeutig sind und normalerweise in der Forschung nicht auf diesen Zeitraum bezogen werden). Danach entstand allmählich eine neue Elite in Makedonien, zunächst bestehend aus einheimischen "Freunden" Roms, dann später aus denjenigen "Freunden" Roms, die zufällig die richtige Seite in den römischen Bürgerkriegen gewählt hatten. Ergänzt wurden die erfolgreichen Einheimischen durch süditalienische oder andere italische Händler, Veteranen und Kolonisten, die sich in Makedonien und Epeiros unter dem Schutz der römischen Provinzverwaltung niederließen und im Verlaufe von mehreren Generationen sich in das vorhandene soziale Kontinuum integrierten, insbesondere in den größeren Städten wie Thessalonica und Beroia. Diese angepasste und aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen entstandene Elite war es schließlich, die aus lokalen Bedürfnissen heraus initiativ bei der Augustusverehrung wirkte und die führende Schicht der Kaiserzeit darstellte.
Dieser Ansatz ist nicht ganz neu, ist aber nie mit solchem systematischen Nachdruck vorgetragen worden. Wichtig auch ist Daubners Feststellung, dass unmittelbar nach 168 v.Chr. Rom tatsächlich eine Art Herrschaft ausübte, die er Protektorat nennt - eine nützliche Bezeichnung für eine eher unstrukturierte Herrschaftsausübung, die in der neueren Forschung zur römischen Expansion außer Mode gekommen zu sein scheint. Selbst dann, wenn die Römer in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg ohne ständig anwesende Militärmacht oder Provinzgouverneur auskamen, konnte keiner - wie Daubner richtig betont - im Zweifel sein, wer letztlich in allen wesentlichen Angelegenheiten das Sagen hatte. Die Durchsetzung der von Aemilius Paullus verfügten Regelungen sowie die regelmäßigen Besuche von hochrangigen römischen Senatoren, die es für selbstverständlich hielten, dass ihre Meinungen beachtet wurden, unterstrichen die Herrschaftsansprüche Roms. Der Übergang zur formalen Provinz mit ständiger römischer Präsenz nach dem Krieg mit Andriskos war also nur graduell, und die sog. makedonische Ära, welche damals begann und anscheinend diese Entwicklungsstufe markiert, zelebriert eher den Sieg über die Aufständischen als die Einrichtung der Provincia Macedonia. Daubner betont auch sicherlich zurecht die Bedeutung der großen Ost-West-Straße (etwas später als via Egnatia bekannt) für die Definition der Ausbreitung und Grenzen der Provinz. Deswegen war Makedonien für Rom überhaupt noch interessant, deswegen konnten römische Bürger einwandern und deswegen fanden die Hauptmanöver der Bürgerkriege gerade in diesem Raum statt. Dieser Schwerpunkt bei der Wesensbestimmung der Provinz führte allerdings auch dazu, dass die geographische und sozio-geographische Struktur der Provinz regional sehr unterschiedlich war. Inschriften und onomastische Analyse, trotz Vorbehalten hinsichtlich Verallgemeinerungen auf der Basis von zufällig gefundenen Textzeugnissen - die Daubner selbstverständlich bewusst sind -, lassen diese regionalen Unterschiede erkennen. Wenn etwa in der auch unter den Königen bedeutenden Regionalstadt Beroia sowie auf dem Lande in den Bergen Obermakedoniens traditionelle makedonische Namen noch vorkommen, sind in Ostmakedonien (Kalindoia) die meisten Namen, die aus den späteren Ephebenlisten bekannt sind, entweder thrakisch oder panhellenisch, also nicht als spezifisch makedonisch erkennbar. Wiederum gibt es dort auch die Nachkommen italischer Händler, die ihr italisches Namensgut aufrechterhielten oder als Gruppe "römischer Geschäftsleute", die in einer Weihung aus Akanthos zusammen mit "der Polis und den Umwohnern" als Mitstifter auftreten.
Daubners Interpretation dieser wichtigen Phase der Expansion der römischen Macht auf die Balkanhalbinsel ist prinzipiell zuzustimmen. Er untermauert seine Darstellung mit detaillierten Quelleninterpretationen, so dass der Leser kein Problem hat, seine Ausführungen an den Quellen (meistens sowohl in Übersetzung als im Original zitiert) zu prüfen. Man muss nicht jedem Detail zustimmen, um das Gesamtbild, das Daubner zeichnet, für überzeugend zu halten. Er scheut selbst auch nicht davor zurück, gelegentlich eine Argumentationskette mit einem non liquet abzuschließen, da nicht alles eindeutig ist. Insgesamt also ist das Buch ein ernstzunehmender Beitrag nicht nur zur Geschichte des antiken Makedonien, sondern überhaupt zur Frage der Expansion von römischen Herrschaftsinteressen in republikanischer Zeit.
Frank Daubner: Makedonien nach den Königen (168 v. Chr. - 14 n. Chr.) (= Historia. Einzelschriften; Bd. 251), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018, 357 S., eine Kt., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12038-8, EUR 64,00
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