Die DDR muss als Nachfolgegesellschaft des nationalsozialistischen Deutschlands begriffen werden, heißt es im Sammelband, der die Resultate der gleichnamigen Konferenz vom Januar 2017 in Berlin zusammenfasst. Dies bedeute - so die Herausgeberinnen und Herausgeber Enrico Heitzer, Martin Jander, Anetta Kahane und Patrice G. Poutrus in ihrer Einleitung -, die DDR intensiver in die Geschichte des gesamten 20. Jahrhunderts sowie in einen globalen Kontext einzubetten (12). Der "Fluchtpunkt" der Geschichtsschreibung sei weniger in der sogenannten Wiedervereinigung zu sehen als im Nationalsozialismus (14).
Der Sammelband besteht aus 21 knappen, acht bis 20-seitigen Aufsätzen. Aufgeteilt sind die Artikel etwas einfallslos in die zwei Themenbereiche "DDR" und "Bundesrepublik Deutschland", womit die Zeit ab 1990 gemeint ist. Die Aufsätze folgen einander grob chronologisch und die Kürze der Beiträge hat ihren eigenen Charme. Schnell gibt der Sammelband Einblick in vermeintliche Leerstellen. Allerdings fehlen verbindende Elemente: Gemeinsame Einleitungen oder Kommentare zu den spezifischen Themenkomplexen hätten die Inhalte besser mit einander verknüpft, anstatt sie nebeneinander stehen zu lassen. Dennoch wird eine enorme Breite an Themen abgedeckt: das Leben von Jüdinnen und Juden in der DDR sowie hier erlebten Antisemitismus und Antizionismus (Anetta Kahane, Jeffrey Herf, Martin Jander), das Engagement queerer Gruppen für die Erinnerung an homosexuelle "Opfer des Faschismus" (Christiane Leidinger und Heike Radvan), die Kriminalisierung nonkonformer Lebensstile durch den Straftatbestand der "Asozialität" (Katharina Lenski) sowie das bis dato in der DDR-Forschung fast kaum beachtete Phänomen des Antiziganismus, dem sich Ingrid Bettwieser und Tobias von Borcke widmen. Einige Artikel befassen sich mit der Frühphase der DDR. So beleuchtet Annette Leo die Rückkehr jüdischer Intellektueller, Künstlerinnen und Künstler sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die - zunächst von der DDR überzeugt - den Staat repräsentierten. Beinahe vorwurfsvoll konstatiert Leo, dass sie die Verhältnisse den "Nachgeborenen" frühzeitiger Zweifel zum Trotz "schöngeredet" hätten (32). Christoph Classen untersucht die Veränderung des Begriffs "Antifaschismus" von der kommunistischen Bewegung der 1920er-Jahre bis heute. Er zeichnet nach, wie sich der Terminus vom Gegenspieler eines "universellen Feindbild[es]" (99) zu einem "strategisch motiviert[en]" Konzept entwickelte, das den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt ideologisch grundierte (100); wie "Antifaschismus" im Krieg den kommunistischen Widerstand beschrieb, danach die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus universalisierte und dabei stets der Abgrenzung zum Westen diente, bevor er in den 1990er und 2000er-Jahren an Kraft verlor (101 f.). Enrico Heitzer und Raiko Hannemann plädieren in ihren Aufsätzen zur rechten Systemgegnerschaft gegen die SED am Beispiel der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (Heitzer) sowie über die Forschung zur DDR-Opposition und ihre defizitäre wissenschaftliche Betrachtung (Hannemann) dafür, die bisherige - an der Totalitarismus-Doktrin orientierten Oppositionsforschung (293) - zu überarbeiten und auch "den Blick auf politisch rechtsstehende Akteure als Teil eines breiten und vielfältigen Diskurses von SED-gegnerischen Strömungen auszuweiten" (65). Hannemann spricht sich außerdem dafür aus, die Dichotomie von Dissidentinnen und Dissidenten und Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern auf der einen Seite und anderen Personen, die sich nonkonform verhielten und engagierten auf der anderen Seite, aufzuweichen. Er verwehrt sich gegen die Aussage, in Ostdeutschland bestehe im Gegensatz zum Westen ein "Nachholbedarf in Demokratie" (304).
Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich vor allem der Erinnerungskultur und Gedenkstättenpolitik. Daniela Blei beschreibt die (Nicht-)Entstehung des weitgehend unbeachteten Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin bis 2017, das einen essentiellen Bestandteil vermissen ließe: den Entstehungsprozess als öffentliche Auseinandersetzung, wie es beispielsweise das Holocaust-Mahnmal mit Debatten über einen Zeitraum von 17 Jahren aufweisen kann (312). Das Freiheits- und Einheitsdenkmal hingegen sei vor allem ein ausschließlich von Politikerinnen und Politikern, genauer "von vier auf politischer und kultureller Ebene einflussreichen Männern", strategisch verhandeltes Projekt (313). Carola Rudnick schildert die Genese der Erinnerungs- und Gedenkstättenlandschaft in den 1990er und 2000er-Jahren und die Differenzen, die sich bis in die Gegenwart erkennen lassen. So zeigt sie, wie maßgeblich mit den Beschlüssen der zweiten Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur" (1998) nicht nur die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit, sondern auch die des NS-Regimes institutionalisiert wurde. Letztere, vormals "allein aus bürgerschaftlichem Engagement getragene NS-Erinnerungskultur" sei nun "spät anerkannt" (261) worden. Sie kritisiert die Konkurrenz der doppelten Vergangenheit, weil die NS-Gedenkstättenlandschaft bis heute nicht über ein Äquivalent zur Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und damit über eine fördernde Dachorganisation verfüge.
Insgesamt vereint der Sammelband interdisziplinäre, multi-perspektivische Beiträge. Er scheut sich nicht, auch emotionale, subjektive Zugriffe wie die von Kahane und Poutrus zu veröffentlichen. Sie beschreiben die Geschichte ihrer jüdisch-kommunistischen Familie bzw. den eigenen Werdegang zum Zeithistoriker, der sich nicht zuletzt aus eigenen Erfahrungen heraus mit Rechtsextremismus und Rassismus auseinandersetzt. Einer intensiveren Beleuchtung der DDR als Nachkriegsgesellschaft würde zu Gute kommen, die frühe Bundesrepublik intensiver mit zu denken und verflochtene Geschichten zu schreiben: So beispielhaft Klaus Bästlein in seiner Untersuchung zu Hans Globke und Konrad Adenauer oder Gerd Kühling darüber, wie der offene Verkehr zwischen den Zonen genutzt wurde, West-Berlinerinnen und West-Berliner zu Veranstaltungen eingeladen und Zeitungen kostenlos verteilt wurden, um vor allem Studierende politisch zu agitieren (52).
Die Forderung nach einem "Paradigmenwechsel", die bereits im Titel erhoben wird, mag etwas überspitzt sein: Ohne Zweifel schafft der Band ein Bewusstsein dafür, die DDR-Geschichte unter der stärkeren Berücksichtigung der zeitlichen Nähe zum Nationalsozialismus anders lesen (und schreiben) zu können. Der Band benennt zugleich Forschungsdesiderate, die zweifellos stärker bearbeitet werden sollten. Dass nicht alle Beiträge den ausgerufenen "turn" einhalten, zeigt auf, wie sehr sie in bisheriger Forschung verankert sind bzw. wo die bisherige Forschung bereits viel geleistet hat. Nicht ganz deutlich wird demgemäß, an wen genau sich der Appell eigentlich richtet: Ist das Plädoyer als Entgegnung auf die gerade stark boomende Transformationsforschung zu verstehen, die in - ihrer schlechten Ausführung -, Rechtsextremismus als puren Reflex auf die verunsichernde Zeit des Umbruchs verharmlost? Oder adressiert er die von Rudnick beschriebene Erinnerungs- und Aufarbeitungskonkurrenz der NS- bzw. DDR-Gedenkstätten, die kürzlich auch auf einer Tagung in der Amadeu Antonio Stiftung besprochen wurde? [1] Paradigmenwechsel hin oder her: Der Sammelband bietet mit einigen sehr erkenntnisreichen Beiträgen einen Überblick über viele Themenbereiche und lädt zu einer neuen Lesart der DDR-Geschichte ein.
Anmerkung:
[1] https://www.belltower.news/der-rechte-rand-der-ddr-aufarbeitung-keine-gleichsetzung-von-verbrechen-des-nationalsozialismus-und-der-ddr-81479/
Enrico Heitzer / Martin Jander / Anetta Kahane u.a. (Hgg.): Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2018, 330 S., 2 Tbl., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-0705-5, EUR 33,60
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