Der vorliegende Sammelband ist Teil einer in den vergangenen Jahren immer intensiver werdenden Auseinandersetzung mit dem Autor Procopius/Prokop. Zusammen mit dem 2017 erschienenen Procopius of Caesarea: Literary and Historical Interpretations [1] bildet er die Ergebnisse einer ganzen Reihe von Tagungen und Konferenzen ab. Die meisten Beiträge dieses Bandes haben ihren Ursprung bei zwei Tagungen in Mayence (Dezember 2014) und Gand (Mai 2016).
Dass beide Bücher grundsätzlich komplementär zu verstehen sind, ergibt sich einerseits aus gewissen Überschneidungen hinsichtlich der beitragenden Wissenschaftler. Andererseits verweisen die Herausgeber in ihrer knappen Einleitung auf die ausführliche Einführung des anderen Buches und geben hier lediglich einen Überblick der enthaltenen Aufsätze. Hervorzuheben ist dabei ihr programmatisches Bekenntnis zur Multilingualität, die sich im Titel des Bandes und in Beiträgen in englischer, französischer und deutscher Sprache widerspiegelt.
Die insgesamt 20 Aufsätze sind sinnvollerweise in vier thematische Kapitel aufgeteilt, die sich mit Prokops Verhältnis zur römischen Gesellschaft (1.), seiner Repräsentation der Vergangenheit (2.), Aspekten der Militärgeschichte (3.) und der Repräsentation von "fremden Völkern" (4.) beschäftigen. Das abgedeckte Spektrum an Fragestellungen ist dementsprechend groß. Im Kontrast zur "Schwesterpublikation" fällt auf, dass fast durchgehend ein Bemühen um positive Ergebnisse erkennbar ist. Von einigen Ausnahmen abgesehen stehen die Dekonstruktion der narrativen Verzerrungen und die literarische Ebene Prokops eindeutig im Hintergrund. An wenigen Stellen wäre eine tiefere Analyse der Intentionen und erzählerischen Mittel des Autors wünschenswert und nötig gewesen.
Zwei sehr unterschiedliche Aufsätze, auf die der angesprochene Vorwurf in keiner Weise zutrifft, eröffnen den Band. Geoffrey Greatrex erfüllt ein für klassische Historiker schon lange bestehendes Desiderat, indem er Prokops Geburtsstadt Kaisareia im fünften und sechsten Jahrhundert analysiert. Zu einem großen Teil stützt er sich dabei auf archäologische Erkenntnisse, die zwar nicht originell, aber für die Beschäftigung mit Prokop und seinem "Sitz im Leben" sehr aufschlussreich sind. Auch mittels dreier Pläne, bzw. Rekonstruktionszeichnungen zeichnet er ein übersichtliches und suggestives Bild dieser Provinzmetropole, deren kulturelles Leben er darüber hinaus aus den Autoren der "Schule von Gaza" extrahiert.
Ebenso gelungen und informativ ist der Aufsatz von Marion Kruse, der Prokops Darstellung kausaler und sich selbst verstärkender ökonomischer und politischer Zusammenhänge herausarbeitet. Ausgehend von der Kritik an Justinians Anreizökonomie in den Anekdota (vgl. ebd., Kap. 19) kann Kruse zeigen, dass Prokop das dort verwendete Modell eines Teufelskreises auch auf andere Bereiche anwendet. Das Prinzip funktioniert im Narrativ darüber hinaus für negative ebenso wie für positive Spiralen der Selbstverstärkung. Damit schafft es Kruse, ein prominentes Erklärungsmuster und einen wichtigen Bestandteil der Erzählstruktur Prokops offen zu legen. Seine Behauptung, Prokops Auffassung von ökonomischen Zusammenhängen habe keine "coherent scholarly attention" (39) erfahren, ist allerdings nicht vollständig zutreffend. [2]
Ein weiterer interessanter Beitrag ist Jessica L. Moores Auseinandersetzung mit römischer Identität bei Prokop (im Vergleich zu Johannes Lydus und Cassiodor), die die Thesen ihrer Dissertation von 2014 aufgreift und zuspitzt. Sie macht für das sechste Jahrhundert zwei Hauptachsen aus, an denen römische Identität fixiert wird. Entscheidend für die Dynamik sei sowohl das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, als auch von Ost und West. Beide Achsen würden kulturelle und linguistische Veränderungen bedingen, die von den drei besprochenen Autoren unterschiedlich gewertet würden. Prokop steche dadurch hervor, dass er aus der römischen Vergangenheit eine Identität formuliere, die gleichzeitig den veränderten Rahmenbedingungen des sechsten Jahrhunderts Rechnung trage und sie inkorporiere. Johannes Lydus und Cassiodor würden eine spürbar hermetischere römische Identität postulieren. Moore leistet damit einen wichtigen Beitrag zur florierenden Forschung über Identitäten in der langen Spätantike. Ihr ausführliches Literaturverzeichnis hätte dementsprechend noch deutlich länger ausfallen können.
Der Beitrag von Andreas Goltz über die Darstellung der ostgotischen Herrscher ist wahrscheinlich der methodisch innovativste Abschnitt des Sammelbandes. Dessen Unterkapitel "Alternative Zugänge zu Prokop" (295-303) enthält grundsätzliche Überlegungen zur Interpretation der Kriege. Ausgehend vom etwas paradoxen Problem der überaus positiven Zeichnung Theoderichs und Totilas stellt Goltz fest, dass eine Art Generalschlüssel zur Interpretation des Werkes wohl nicht existiere, und dass konsequenterweise flexible Interpretationsansätze zielführender seien. Mit den Stichworten 'Diversität' und 'Inkonsistenz' leitet Goltz über zum Konzept des "embedded author". Die stärkere Einbeziehung der persönlichen Erfahrungen des Autors kann gerade Inkonsistenzen gut erklärbar machen, wie sie bei der Bewertung der ostgotischen Könige und generell militärischer Themen auffallen. Für andere Aspekte der Kriege, besonders deren literarische Ausformung, ist dieses ursprünglich journalistische Konzept allerdings weniger geeignet.
Was das vorliegende Buch in erster Linie auszeichnet ist die große Breite der Themen. Sie zeigt das Ausmaß möglicher Beschäftigungen mit Prokop und die Vielfältigkeit der Forschungslandschaft. Damit ist jedoch auch eine Schwäche angesprochen: Die versammelten Beiträge folgen keiner inhärenten Logik oder Vorgehensweise, obwohl sie inhaltlich gruppiert sind. Der entstandene Gesamteindruck ist, mit Einschränkungen, eher der einer ausführlichen Erkundung als einer tiefen Analyse. Andererseits entspricht dies dem Titel und damit wohl auch dem Anspruch des Buches: Die Welt Prokops in den Blick zu nehmen impliziert schließlich einen Überblick sowie weit gestreute Studien, und keine Detailuntersuchung.
Leider trübt das physische Buch den sonst sehr positiven Gesamteindruck. Obwohl sorgfältig redigiert (bei drei verschiedenen Sprachen keine kleine Leistung), wird die Lektüre schnell anstrengend. Dafür verantwortlich ist in erster Linie das dünne Schriftbild, das für die Augen des Lesers unangemessen anstrengend ist. Außerdem ist es ärgerlich, dass das Buch einen sehr weichen Taschenbuch-Einband hat, dafür aber verhältnismäßig zu groß und vor allem zu schwer ist.
Anmerkungen:
[1] Christopher Lilington-Martin / Élodie Turquois (eds.): Procopius of Caesarea: Literary and Historical Interpretations, London / New York 2017.
[2] Vgl. Hartmut Ziche: Historians and the Economy: Zosimos and Prokopios on Fifth- and Sixth-Century Economic Development, in: Byzantine Narrative. Papers in Honour of Roger Scott, ed. by John Burke, Melbourne 2006, S. 462-474 sowie David Braund: Procopius on the Economy of Lazica, in: The Classical Quarterly 41 (1991), 221-225.
Geoffrey Greatrex / Sylvain Janniard: Le monde de Procope / The World of Procopius (= Orient et Méditerranée; 28), Paris: de Boccard 2018, 422 S., 4 Kt., eine Tbl., ISBN 978-2-7018-0549-8, EUR 59,00
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