Diese Regensburger Dissertation über die "Selbstfindungsversuche des Zionismus in Deutschland" (18) vor dem Ersten Weltkrieg ist theoretisch anspruchsvoll. Empirisch erweitert und korrigiert sie den Forschungsstand erheblich. Sie analysiert die Jüdische Rundschau als "bedeutende Produktionsstätte des frühen deutschen zionistischen Diskurses" (36) und deutet diesen, indem sie ihn in das jeweilige inner- und außerzionistische Umfeld einordnet. Es geht der Autorin vor allem um das hybride Eigene, das entstand, wenn sich die Zionisten mit den nationalen Deutungsmustern auseinandersetzten, die sie in Deutschland vorfanden. Die Frage nach den Konstruktionen, die aus innerzionistischen Entwicklungen und dem Austausch mit dem deutschen Nationalismus entstanden, zieht sich durch alle Kapitel. Beide, der zionistische und der deutsche Nationalismus, veränderten sich im Untersuchungszeitraum und wiesen stets in sich eine erhebliche Spannweite auf. Die "ambivalenten Hybriditätskonstruktionen", die daraus hervorgingen und ihr Wandel, stehen im Zentrum des Buches, doch es wird auch der Kreis der zionistischen Akteure, die sich an den Debatten beteiligten, untersucht. Analysiert wird auch, unter welchen Bedingungen die Jüdische Rundschau produziert wurde und zur zentralen Plattform für den deutschen Zionismus und für seine Zukunftskonzeptionen werden konnte. Im Streit um "die Deutungshoheit über den Zionismus" (291) erreichte sie eine Position, die ihr ursprünglich nicht zugedacht war.
Nach den theoretischen Grundlagen (Kapitel I) und der mediengeschichtlichen Analyse der Zeitschrift und ihrer Netzwerke (Kapitel II) folgt das Hauptkapitel III: "Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau", untergliedert in drei umfangreiche Abschnitte. Der erste fragt "Was ist die 'jüdische' Nation?" Die "konstitutiven Kollektivbegriffe" seien "überwiegend der politisch-sozialen Sprache des 'deutschen Nationalismus'" entlehnt worden (150). Im "Spannungsfeld von 'Deutschland' und 'Zion'" (156) erhielten die Begriffe Nation, Stamm und Staat jedoch eigene, auch unter den deutschen Zionisten kontroverse Zuschreibungen. Wenn Kulturzionisten mit einem jüdischen Stamm innerhalb der deutschen Nation argumentierten, konnten sie sich von anderen nationalen Minderheiten wie den Dänen und Polen distanzieren, da diese auf staatliche Unabhängigkeit zielten. Jüdisches Volk als Kulturvolk gehörte zum "Kernbestand zionistischer Selbstdeutungen" (194). Der Volksbegriff umfasste auch unter den Zionisten ein weites Spektrum. Neben der jüdischen Kulturgemeinschaft stand die Vorstellung der Rassegemeinschaft. Zionisten nahmen das Konzept Rasse aus den zeitgenössischen Diskursen auf, grenzten sich zugleich von antisemitischen Rassezuschreibungen ab, nutzten aber auch die Konstruktion eines biologisch fundierten "nationaljüdischen Kollektivs", um die "Notwendigkeit der jüdischen Kolonisation und die Substanz- und Sinnlosigkeit assimilierender Tendenzen im deutschen Judentum" zu begründen (236).
Lässt sich diese Spannweite zwischen "Affirmation, Transformation und Negierung von Rassenideologie" (237) durchweg als hybride kennzeichnen? Vielfach waren es wohl Positionen, die nebeneinander existierten und gegeneinander im deutschen Zionismus konkurrierten. Da der zionistische Diskurs stets vielstimmig blieb, ist es schwer, zwischen Vielfalt der Positionen und einer spezifischen Hybridität innerhalb der deutschen Zionisten zu unterscheiden. Schwer ist es auch, die Rolle der Religion in den zionistischen Diskursen, wie sie die Autorin darlegt, zu erkennen. "Die Nation ist ein historisches Produkt", formulierte einer der Autoren (241). Die Rundschau hat die religiöse Überlieferung national-säkular gedeutet. In Umrissen wurde eine "zionistische Geschichtsschreibung" (245) sichtbar, in der sich ein "Gegendiskurs" zur "christlich-theologischen Deutung des Judentums" (243) abgezeichnet habe. Diese Auseinandersetzung wurde in der Zeitschrift der religiösliberalen Juden zeitgleich weitaus intensiver geführt. Wie sich die Rundschau zu dieser Konkurrenz um die Deutung der jüdischen Geschichte und des Judentums als Religion verhalten hat, wird nicht sichtbar.
Vorzüglich wird in den Abschnitten "Was ist 'Zionismus'" und "Wo liegt 'Zionismus'" analysiert, wie sich die Rundschau-Autoren mit den Themenfeldern Palästina, Ostjudentum und Kolonialismus auseinandergesetzt haben. Auch hier werden die empirischen Befunde theoretisch ('Orientalismus', 'spatial turn', 'mental maps') entschlüsselt. Die Artikel belegen einerseits die "kulturmissionarische Ideologie" (372), die mit der jüdischen Besiedlung Palästinas verbunden wurde. Deshalb konnten Zionisten auch in deutschen Kolonialgesellschaften mitwirken. Andererseits grenzten sie sich vom europäischen Kolonialismus ab, ohne jedoch die Konflikte in den eigenen Ansprüchen auflösen zu können. 1905 formulierte ein Artikel es so: "wir haben gleichzeitig kulturelle, nationale, kolonisatorische, kommerzielle und religiöse Interessen" an Palästina (382).
Auch hier wird man fragen dürfen, ob man den zionistischen Kolonialdiskurs, die Debatten über Zionismus und Orientalismus, die Kontroverse um die zionistische Position zwischen 'West' und 'Ost', verbunden mit der Einschätzung des Ostjudentums, als hybride kennzeichnen sollte. Es gab, so zeigt die Autorin detailliert, "mitunter völlig unterschiedliche ideologische Strömungen und Allianzen [...], welche um die Deutungshoheit über den Zionismus stritten." (291) Diese Kontroversen suchte die Jüdische Rundschau mit einer "Strategie des 'nationalen Homogenisierens'" (297f.) einzuhegen. Sie folgte einer "Unitätsutopie", die "zum Wesensmerkmal des zionistischen Nationalismus" erklärt wurde (296f.). Dieses "Idealbild der 'jüdischen Nation'" zielte auf eine "homogene und geschlossene Gemeinschaft" (297).
Den Wunsch nach Homogenität teilte der Zionismus generell mit der Idee Nation. Nationalisten wollten die Gesellschaft homogenisieren; nicht nur in Deutschland. Der deutsche Zionismus entstand in einer Zeit, in der der Radikalnationalismus erstarkte, ohne jedoch die anderen Richtungen zu verdrängen. Dies hebt die Autorin zu Recht hervor. Das weite Spektrum, das innerhalb des nichtjüdischen Nationalismus festzustellen ist, findet sich auch in der innerzionistischen Debatte. Der deutsche Zionismus, so zeigt die Autorin überzeugend, nahm Positionen auf, die damals in der Mehrheitsgesellschaft streitig diskutiert wurden, und er setzte sich davon ab. Zionismus als "koloniales Projekt" (451) und als Opposition gegen jede Form von Kolonialismus durch eine Gruppe, die sich selber als "para-kolonialisierte Minderheit" (452) sah. Da der Zionismus, wie er in der Jüdischen Rundschau bis zum Ersten Weltkrieg zu fassen ist, eine Diskursgemeinschaft blieb, musste er sich zwischen den kontroversen Einstellungen nicht entscheiden. Er konnte es auch nicht. Es gab in diesem Diskurs keine Entscheidungsinstanz. Auch deshalb ist es schwer zu erkennen, ob sich in dem diskursiven Spannungsfeld unterschiedlicher, zum Teil konträrer Anschauungen eine hybride Mehrheitsposition herausbildete. Auch wenn man gegenüber der Hybridität als Leitlinie der Autorin zurückhaltend bleibt - ihr ist eine vorzügliche Studie gelungen, die den frühen deutschen Zionismus auf breiter empirischer Grundlage und theoretisch ambitioniert neu vermisst.
Sabrina Schütz: Die Konstruktion einer hybriden "jüdischen Nation". Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902-1914 (= Formen der Erinnerung; Bd. 68), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 514 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0930-3, EUR 70,00
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