Die Ausbreitung des Kapitalismus in Europa hatte fundamentale Folgen für die Lebensweise der Menschen und die Grundlagen sozialer Ordnung. Der Wandel vollzog sich auf institutioneller wie auf semantischer Ebene, verschob die Vorstellungen legitimer Wirtschaftshandlungen und begründete eine durch Geld gesteuerte Wirtschaftsweise. Die aktuell boomende Forschung zur Entstehungsgeschichte des Kapitalismus hat zahlreiche dieser Entwicklungen thematisiert. [1] Sie hat den Blick bisher jedoch nicht auf jene Wirtschaftssubjekte gelenkt, anhand derer sich die vielfältigen Vorbedingungen des Kapitalismus eigentlich besonders gut studieren lassen sollten: den Kindern und Jugendlichen. Ihre Erziehung und Sozialisation erscheint als vielversprechender Zugang, um nicht nur die historischen Voraussetzungen des Kapitalismus, sondern auch seine Auswirkungen auf die Kindheit selbst zu studieren. In diese "Kinderstube des Kapitalismus" blickt Sandra Maß mit ihrer 2014 als Habilitation an der Universität Bielefeld angenommenen Arbeit. Dass sie damit historiografisches Neuland betritt, mag nicht zuletzt dem Quellenproblem geschuldet sein, vor dem dieser zugleich einleuchtende wie relevante Ansatz steht. Maß hat sich davon nicht abhalten lassen und eine beeindruckende Diversität an Quellen gesichtet.
In vier Abschnitten diskutiert Maß die Entwicklung monetärer Erziehung zwischen dem 18. und dem späten 19. Jahrhundert mit einem Fokus auf England und den deutschen Staaten, wobei die Studie eine transnationale Perspektive und keinen systematischen Vergleich anstrebt. Der erste Abschnitt fokussiert auf das 18. Jahrhundert und thematisiert die nun erstmals diskutierte Beziehung zwischen Kindern und Geld. So beschreibt Maß einerseits den verbreiteten Topos des verschwenderischen Studenten sowie den problematischen alltäglichen Umgang mit Geld anhand unterschiedlicher Beispiele von Lessing und Goethe bis hin zu jungen walisischen Aristokratinnen. Die durch das Geld eröffneten Freiräume stellten sich schnell als monetär limitiert heraus. Weniger über die Hausväterliteratur des späten 18. Jahrhunderts als über philanthropische Schriften sowie die Kinder- und Jugendliteratur fand das Geld Einzug in die Kindererziehung. Maß beleuchtet diese geschlechtsspezifischen Erziehungsdiskurse und Moralvorstellungen, die sich zwischen den beiden Polen des Geizes und der Verschwendungssucht positionierten. Kontrovers waren Fragen des Taschengelds oder der Entlohnung kindlicher "Arbeit" in bürgerlichen Haushalten. Ansonsten beschreibt Maß eine gerade in bürgerlichen Haushalten verbreitete Idealisierung von Armut und Integrität, die oft der Verschwendungssucht gegenübergestellt wurde.
Der zweite Abschnitt diskutiert die "Popularisierung des Ökonomischen" bis etwa 1850. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen Ökonomen und Ökonominnen, an breitere Personengruppen gerichtete Werke zu verfassen und den Schulunterricht zu beeinflussen. Dazu griffen sie Erkenntnisse der Politischen Ökonomie auf und simplifizierten diese. Eine zunehmende "Abkehr von (...) religiösen Zweifeln an der Kapitalbildung und am Profitstreben" (144) kam dem entgegen. Teilweise gründeten Ökonomen sogar eigene Privatschulen. In Deutschland stießen Plädoyers für eine ökonomische Erziehung dagegen auf Widerstände. Die Vermittlung ökonomischen Wissens beschreibt Maß als stark geschlechterspezifisch. Eine Vermittlung der Inhalte der politischen Ökonomie an das weibliche Publikum, wie sie durch die populären Schriften Jane Marcets und Harriet Martineaus erfolgte, lehnten die männlichen Rezensenten ab. Männlichkeitsvorstellungen und der Ökonom als Vaterfigur stellten "wichtige Wahrnehmungs- und Konstruktionsweisen des Ökonomischen" (136) dar, was unter anderem an dem Verhältnis von James Mill zu seinem Sohn John Stuart diskutiert wird. Emotionen blieben bis Ende des 19. Jahrhunderts wichtig im Gelddiskurs, verschwanden jedoch zunehmend aus den mathematisierten Wirtschaftswissenschaften.
Der dritte Abschnitt beschreibt die Rolle des Geldes in den Kinderwelten des 19. Jahrhunderts vom Umgang mit Spardosen bis hin zum Erlernen des Geldausgebens. In bürgerlichen Familien wurde der Umgang mit dem Taschengeld, dessen Gabe nicht mehr zur Disposition stand, als instruktiv betrachtet. Zwar wurde in zahlreichen Ratgebern die freie Verfügbarkeit betont. Andererseits sollte der Gefahr zielloser Verschwendung durch elterliche Intervention begegnet werden. Ein Mittel dazu waren Spardosen, dessen Ästhetik vor allem Rückschlüsse über die Omnipräsenz rassistischer Stereotypen im Kinderzimmer erlauben. Bei der Geldausgabe richtete sich die Erziehung zunächst auf das christliche Ideal, für Arme und Schwarze in den Kolonien zu spenden. Im Zuge der sich entwickelnden Konsumgesellschaft trat dagegen der erzieherische Versuch, die Konsumlust zu kontrollieren, in den Vordergrund. Kaufmannsläden und Spielgeld erhielten eine größere Präsenz in den Kinderzimmern. Die klassischen Spielwaren waren jedoch "von Zurückhaltung gegenüber dem Geld geprägt" (214).
Der vierte Abschnitt ist der "Erziehung zur Sparsamkeit nach 1850" gewidmet, die ein wesentliches Merkmal des bürgerlichen Wertehimmels darstellte. Maß sieht zwei zentrale Wandlungsprozesse am Werk, die sie sowohl anhand von Ratgebern als auch anhand der Entwicklung von Schulsparkassen nachzeichnet: erstens eine Politisierung des Sparens, das nicht nur als Mittel gegen politische Unruhen, sondern auch zur Stärkung der Volkswirtschaft betrachtet wurde. Eine zunächst exklusive Verknüpfung mit liberalen Männlichkeitsvorstellungen habe so lange dominiert, bis die Sparsamkeit in Folge der Emanzipation auch in der Mädchenerziehung in den Fokus rückte. Zweitens sei es zu einer Änderung des semantischen Bezugsrahmens gekommen, der nun auch die Beschreibung einer "kapitalistischen Lebensführung" von Kindern einschloss. Erstmals habe, wenn auch zaghaft, der Gebrauch des Wortes Kapitalismus im Zusammenhang mit Kindern Verbreitung gefunden (228). Das Buch endet mit einem kurzen Ausblick auf die von Sparkassen und Banken betriebene kindliche Geldsozialisation vor und nach der Finanzkrise von 2008.
Insgesamt hat Maß eine verdienstvolle Studie vorgelegt, die eine wichtige Ergänzung der Forschungen zum Kapitalismus und zur Geschichte der Kindheit darstellt. Sie zeigt die historisch wandelbaren Geschlechterrollen im Umgang mit Geld und widerlegt eindrücklich die lange Zeit verbreitete Ansicht einer vom "Materialismus" abgeschirmten Kindheit. Die sozialen Praktiken der Geldverwendung müssen angesichts der herangezogenen Quellen weitestgehend im Dunkeln bleiben und Maß ist sich durchaus im Klaren darüber. Auch bleibt die Studie aus demselben Grund einer bürgerlichen Perspektive verhaftet, obwohl Kinder aus ärmeren Schichten einen viel umfassenderen Umgang mit Geld hatten, der kaum so fahrlässig gewesen sein dürfte wie von zeitgenössischen Autoren und Autorinnen behauptet. Wie im Fall der Geschlechterrollen trugen jedoch auch diese Diskurse zur Stabilisierung der jeweiligen sozialen Ordnung bei. Durch ihren Blick auf den "Wandel der Semantiken, Leitbilder, Mentalitäten und anderer kultureller Phänomene" (267) liefert Maß einen gelungenen Zugriff auf die historischen Veränderungen der Kindheit im Kapitalismus.
Anmerkung:
[1] Siehe u.a. Thomas Welskopp: Zukunft bewirtschaften. Überlegungen zu einer praxistheoretisch informierten Historisierung des Kapitalismus, in: Mittelweg 26 (2017), 81-97; Werner Plumpe: Das kalte Herz: Kapitalismus. Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019.
Sandra Maß: Kinderstube des Kapitalismus. Monetäre Erziehung im 18. und 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; Bd. 75), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, VIII + 321 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-11-037439-1, EUR 59,95
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