In den letzten Jahren ist es um die Geschichte des Katholizismus im deutschen Kaiserreich eher ruhig geworden, aber von den 1980er bis in die frühen 2000er Jahre handelte es sich um ein blühendes und stark beachtetes Forschungsfeld. Ein Hauptstrang der Debatten kreiste um die Frage, wie zeitgemäß der deutsche Katholizismus orientiert war. War er eine fundamental antimoderne Kraft, die sich in einem selbstgebauten, klerikal beherrschten Ghetto gegen alles Neue verschanzte? Oder trug er gerade wegen der Dichte seines sozialmoralischen Milieus zur Bewältigung des Übergangs in die Moderne und zur Demokratisierung der politischen Kultur bei? Wie auch immer die Antworten ausfielen - klar hat die Forschung der vergangenen Jahrzehnte gemacht, dass das 19. Jahrhundert nicht eindimensional als Zeitalter der Säkularisierung verstanden werden kann, sondern dass Religion und Konfession neue Aufschwünge erlebten. Das gilt nicht zuletzt für den gewichtigen Aktionsbereich der Sozialreform, auf den religiöse Vorstellungen und konfessionell gebundene Akteure maßgeblich einwirkten.
An dieses Forschungsfeld schließt die Dissertation von Christina Riese an, die im Sonderforschungsbereich 923 "Bedrohte Ordnungen" an der Universität Tübingen entstanden ist und 2015 an der dortigen Katholisch-Theologischen Fakultät eingereicht wurde. Sie vertritt eine Auffassung, die zwar die Geschlossenheit des katholischen Milieus betont, aber auch seine Differenziertheit und Innovationsfähigkeit, welche sie vor allem dem Einfluss des rheinisch-westfälischen Bürgertums zuschreibt. Konzeptionell greift sie neben der Katholizismus- auf die Bürgertumsforschung zurück, während sie sich in methodischer Hinsicht auf Diskursanalyse und historische Semantik beruft. Ziel der Studie ist es zu zeigen, wie binnenkatholische Verhandlungen über Hunger, Armut und soziale Frage mit umfassenderen Ordnungsdiskursen zusammenhingen. Der "Hunger" beziehungsweise das Elend der städtisch-industriellen Unterschichten, so der Leitgedanke, erschien in katholischer Zeitdiagnose als Symptom einer krisenhaften Entwicklung in der Moderne, die zum Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung und damit zum Untergang der Seelen zu führen drohte. Aus diesem Bedrohungsszenario erwuchs die Motivation sozialkaritativen Handelns: Es zielte auf die Wiederherstellung einer guten christlichen Gesellschaftsordnung, was weit mehr als das Füllen der Mägen erforderte. Rieses Hauptthese ist es, dass die Diagnose akut bedrohter Ordnung das katholische Milieu zusammenschweißte, trotz antimoderner Stoßrichtung aber zugleich einen dynamischen Aushandlungsprozess darüber antrieb, wie die Krisensymptome zu begreifen und zu behandeln seien.
Auf die Einleitung, die die historiographischen Bezugsfelder und das Forschungsdesign umreißt, folgt ein erstes Hauptkapitel, das sich mit Begriff und Phänomen des Hungers beschäftigt und dabei den Beobachtungsraum enger absteckt. Statt das ganze Kaiserreich in den Blick zu nehmen, will sich Riese auf das rheinisch-westfälische Industriegebiet in zwei Phasen konzentrieren, in denen Hunger und entsprechende Krisenkommunikationen verdichtet auftraten. Die erste Phase umfasst im Wesentlichen die 1880er Jahre, also das Jahrzehnt, in dem sich unter dem Eindruck von Gründerkrise und Sozialistengesetz nicht nur Katholiken verstärkt der sozialen Frage zuwandten und das überdies noch im Schatten des ausklingenden Kulturkampfes stand. Die zweite Phase umfasst den Ersten Weltkrieg, gegen dessen Ende die Versorgungslage immer kritischer bis desaströs wurde. Damit ist der Rahmen für die folgenden Kapitel gesetzt, die je einen "Ort" der katholischen Auseinandersetzung mit Hunger, Armut und sozialer Frage erkunden.
Der Ort des zweiten Hauptkapitels sind die Generalversammlungen der Katholiken Deutschlands, die Riese als zentrale Aushandlungsplattform beschreibt, auf der sich der deutsche Katholizismus über die Bedrohungen der Gegenwart und nottuende Gegenmittel verständigte. Dabei streicht sie besonders die Rolle des 1880 gegründeten Verbands katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde (kurz: Arbeiterwohl) als Vorreiter einer neuen sozialkatholischen Strömung heraus. Das dritte Kapitel behandelt die Vinzenz- und Elisabethvereine als Protagonisten einer traditionellen karitativen Praxis, in der die Sorge für die Armen nicht zuletzt Mittel zur Gewinnung des eigenen Seelenheils war. Das vierte Kapitel thematisiert die Unterbringung von unterernährten Stadtkindern auf dem Land während des Ersten Weltkriegs, eine Aktion, die Riese als Schrittmacher für den Aufbau großverbandlicher Organisationsstrukturen im karitativen Katholizismus vorstellt. Von dort springt das fünfte Kapitel zurück in die 1880er Jahre zum Verband Arbeiterwohl und dessen Modell einer christlich-patriarchalen Unternehmensführung: Die Fabrik von Franz Brandts in Mönchengladbach, die im Mittelpunkt der Verbandsaktivitäten stand, präsentiert Riese als Versuchslabor neuer bürgerlich-katholischer Rezepte im Umgang mit der sozialen Frage. Das sechste Kapitel widmet sich schließlich den katholischen Arbeitervereinen, wobei wiederum die programmatischen Impulse aus dem Verband Arbeiterwohl im Vordergrund stehen.
Riese verwendet Quellen ausschließlich katholischer Provenienz und fast nur solche, die klerikale und bürgerliche Stimmen repräsentieren, was angesichts der diskursgeschichtlichen Fragestellung nicht zu kritisieren ist. Was indes bemängelt werden muss, ist, dass sie ihr Ziel, diskursiven Wandel herauszuarbeiten, nur unzulänglich erreicht. Das hängt mit zwei Grundproblemen in der Anlage der Studie zusammen. Zum einen hatte sich die semantische Verschiebung, die Riese primär umtreibt, zu Beginn des Untersuchungszeitraums bereits vollzogen. Immer wieder betont sie, wie signifikant der Begriff "Soziale Frage" sei, da, wer ihn benutzte, sich vom traditionellen Armutsbegriff abgewandt und ein neues, strukturelles Verständnis von sozialen Notlagen entwickelt habe. Allerdings räumt sie selbst ein, dass schon um 1880 nicht nur Vorreiter des Sozialkatholizismus, sondern auch konservative Katholiken diesen Terminus routiniert verwendeten. Das macht ihn als Indikator für ein spezifisch innovatives Denken ziemlich ungeeignet. Wer von sozialer Frage sprach, musste übrigens den Begriff der Armut keineswegs für obsolet halten, handelte es sich doch eher um komplementäre denn um alternative Kategorien.
Das zweite, gravierendere Problem besteht darin, dass die beiden Verdichtungsphasen sehr ungleich gewichtet und nicht plausibel miteinander verknüpft sind. Kapitel zwei, fünf und sechs befassen sich nur mit der ersten Phase, den 1880er Jahren. Dazwischen steht das vierte Kapitel zur Kinderlandunterbringung im Ersten Weltkrieg, welches ganz andere thematische Aspekte diskutiert. Das dritte Kapitel zu den vinzentinischen Vereinen umspannt zwar beide Phasen, aber ohne diachron zu vergleichen. Immerhin leuchtet ein, dass diesem Kapitel konzeptionell die Funktion zukommt, einen traditionell-karitativen Hintergrund zu malen, vor dem sich der Sozialkatholizismus des Verbands Arbeiterwohl abheben kann. Die Funktion des Kapitels zur Kinderlandunterbringung bleibt hingegen nebulös. Leider unternimmt es auch das knappe Schlusswort nicht, die disparaten Teile der Arbeit argumentativ zusammenzubinden.
Dennoch gelingen der Autorin innerhalb der einzelnen Teile interessante Einblicke in die Denkhorizonte des kaiserzeitlichen sozial und karitativ engagierten Katholizismus, die das Buch durchaus lesenswert machen. Positiv hervorzuheben sind vor allem ihre Analysen von Familienbildern und Geschlechterrollen, die vor Augen führen, wie sehr die Beantwortung der sozialen Frage vom richtigen Verhalten der Arbeiterfrauen abzuhängen schien.
Christina Riese: Hunger, Armut, Soziale Frage. Sozialkatholische Ordnungsdiskurse im Deutschen Kaiserreich 1871-1918 (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 136), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, XIV + 418 S., ISBN 978-3-506-79272-3, EUR 89,00
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