Die Forschung zur Geschichte der Menschenrechte hat sich in den letzten Jahren auf die Frage nach Ursachen, Gründen und Faktoren ihrer Durchsetzung konzentriert. Historikerinnen und Historiker haben die Rolle antiimperialer Kampagnen für den Durchbruch der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, westliche Menschenrechtsinitiativen sowie die langen historischen Linien seit der Französischen Revolution in den Blick genommen. Kontrovers wurde diskutiert, wann eine "Menschenrechtsrevolution" stattfand und wodurch diese ausgelöst wurde. Hierbei haben Samuel Moyns Arbeiten die Bedeutung der 1970er Jahre aus westlicher Perspektive hervorgehoben [1]. Roland Burke und Steven L.B. Jensen haben hingegen aus antikolonialer Sicht den Fokus auf die 1960er Jahre und die Konflikte um das Recht auf Selbstbestimmung als Menschenrecht gelegt [2]. Stefan-Ludwig Hoffmann wiederum hat unlängst die Auffassung vertreten, dass die wirkliche Revolution der Menschenrechtsanwendung und Institutionalisierung erst nach Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren ihren kurzen Frühling erlebte [3].
Marco Durantis Monografie "The Conservative Human Rights Revolution" verfolgt einen gänzlich anderen chronologischen Zugriff: Von den Jahren um 1900 bis zur Errichtung der Internationalen Gerichtshöfe in Den Haag begreift er konservative Debatten um Europaideen und europäische Identität als Teil einer historischen Entwicklung, die schließlich in der Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahr 1950 gipfelte. Das Buch verankert die Entstehung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in konservativen Denktraditionen internationalen Rechts als dem "Recht zivilisierter Staaten". Duranti möchte in drei verschiedenen Ansätzen, die sich in der Dreiteilung des Hauptteils des Buches niederschlagen, die kultur-, ideen- und politikgeschichtlichen Grundlagen des europäischen Menschenrechtssystems erforschen. Er entdeckt dabei ähnliche Konflikte und eine konservative Abwehrhaltung gegenüber sozial-demokratischen, sozialistischen und kommunistischen Rechtskonzepten, die nach 1945 auch die Debatten um soziale und wirtschaftliche Menschenrechte innerhalb der Vereinten Nationen geprägt haben. Dagegen setzten Konservative im europäischen Kodifikationsprozess nach 1945 auf christlich-europäische Grundwerte und ihre Ideen einer europäischen Zivilisation. Duranti betont, dass führende konservative Politiker nicht nur aus politischem Kalkül gehandelt hätten, sondern dass es "distinctly conservative aspects of their complex worldviews" waren "that explain why they took the lead in the creation of a European human rights court" (5).
Das Buch basiert auf Archivquellen aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, den Niederlanden und den USA, jedoch richtet sich der Fokus der Untersuchung auf britische und französische Initiativen. Duranti legt einen Schwerpunkt des Buches auf die Rolle und den Einfluss Winston Churchills und dessen Schwiegersohns Duncan Sandys innerhalb des frühen Europarats. Churchill, so Duranti, und Vereinigungen wie die Union der Europäischen Föderalisten (UEF) und die Europäische Bewegung International waren für die schnelle Umsetzung einer europäischen Menschenrechtskonvention und die Einrichtung eines Gerichtshofs verantwortlich. Duranti zeichnet Churchills Ideen europäischer Verbundenheit nach, jedoch erwähnt er erst gegen Ende des Buches, dass Churchill den Europarat möglicherweise vor allem auch als politische Bühne für sich nutzen wollte, nachdem er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Premierminister abgewählt worden war. Die Diskussionen um die europäische Einigung erlaubten es Churchill, ein internationales Profil beizubehalten. Altiero Spinelli, einer der führenden UEF-Mitglieder sollte Churchill zudem später vorwerfen, das Integrationsprojekt zugunsten eines Staatenbundes torpediert zu haben.
Entgegen dem Narrativ vom Niedergang internationalen Rechts in der Nachkriegszeit, das etwa Martti Koskenniemi in seiner Arbeit zur Entstehung internationalen Rechts von 1870 bis 1960 vertreten hat, möchte Duranti durch eine Verknüpfung von historischen Ideen und Konzepten mit Institutionengeschichte zeigen, dass dem Europa der Märkte ein Europa der Menschenrechte vorausgegangen ist, das zentral für die Legitimität des Integrationsprojekts war (166). Was Duranti vor allem interessiert, ist die Rolle von konservativen Politikern und Intellektuellen in der Vorbereitung eines politischen Klimas, das die Verabschiedung der EMRK im Jahr 1950 erlaubte. Während das Buch in der Einleitung die Rolle von Sozialisten und Sozialdemokraten bei der Entstehung der EMRK und des EGMR anerkennt, spielen im Hauptteil Akteure der politischen Linken eine passive Rolle, die eine konservative Umorientierung nach 1945 hin zu einer marktliberalen und christlichen Aufladung der EMRK im Rahmen des europäischen Antikommunismus nach 1945 erklären hilft. Hier wäre eine weitergehende Einbeziehung der Debatten um Menschenrechte und der Idee des Rechts im Allgemeinen auf Seiten der politischen Linken wünschenswert gewesen, um herauszuarbeiten, inwiefern Churchill und andere Konservative ein neues höchstes Gericht für Menschenrechte als ein Mittel ansahen, um "die Demokratie vor sich selbst zu schützen". Nach dem Wahlerfolg der Labour-Partei, so Duranti, sahen britische Konservative sich einer neuen "Massentyrannei" ausgesetzt, die ein nach ihren Vorstellungen geformter EGMR einhegen sollte (6). Diese innenpolitische wie außenpolitische Politisierung des Rechts nach 1945 war eine wichtige treibende Kraft in der Verabschiedung der EMRK.
Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der europäischen Integration, da Duranti durch einen historischen Zugriff politikwissenschaftlich-inspirierte Perspektiven zu durchbrechen vermag. Es geht ihm nicht so sehr um die Frage, ob es technokratische Impulse oder föderalistische Idealisten waren, die den Prozess der Integration angestoßen haben, sondern um die Rolle führender Konservativer in den Anfängen eines integrierten Europas. Das Buch beschäftigt sich daher, wie schon aus dem Untertitel hervorgeht, mit europäischer Identität, transnationalen konservativen politischen Netzwerken und den ideellen Grundlagen der Menschenrechtskonvention aus anglo-französischer Perspektive. Es kümmert sich weniger um die Details juristischer oder rechtshistorischer Fragen in der Formulierung eines europäischen Menschenrechtskatalogs oder die Konflikte um die Institutionalisierung der EMRK und des EGMR nach 1950. Die Erinnerung an ein britisch-konservatives ideelles Interesse an Europa nach Ende des Zweiten Weltkriegs scheint in unseren Zeiten wichtiger denn je. Das Buch wirft darüber hinaus die wichtige Frage auf, inwiefern die EMRK als einer jener Nachkriegsversuche einer Wiederherstellung europäischer Werte nach dem Holocaust zu lesen ist und dabei zugleich als Element des langen Rückzugs europäischer Kolonialmächte von Ideen souveräner Menschenrechte, die nur zivilisierten Staaten zustünden, verstanden werden muss.
Anmerkungen:
[1] Vor allem Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge, MA / London 2010; ders.: Christian Human Rights, Philadelphia 2015; ders.: Not Enough. Human Rights in an Unequal World, Cambridge, MA / London 2018.
[2] Roland Burke: Decolonization and the Evolution of International Human Rights, Philadelphia 2010; Steven L.B. Jensen: The Making of International Human Rights. The 1960s, Decolonization, and the Reconstruction of Global Values, Cambridge 2016.
[3] Stefan-Ludwig Hoffmann: "Viewpoint: Human Rights and History", in: Past and Present 232 (2016), 279-310.
Marco Duranti: The Conservative Human Rights Revolution. European Identity, Transnational Politcis, and the Origins of the European Convention, Oxford: Oxford University Press 2017, XI + 507 S., ISBN 978-0-19-981138-0, GBP 56,00
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