Die 2015 an der FU Berlin eingereichte Habilitationsschrift von Tobias Vogt problematisiert die Konstruktion von Brüchen und Epochenzäsuren der neueren Kunstgeschichtsschreibung. Anhand künstlerischer Strategien der Verwendung und Integration alltäglicher Objekte, stellvertretend und charakteristisch für eine industrielle Waren-Kultur einer im Baudelaireschen Sinne transitorischen und flüchtigen Moderne (Zeitung - Textilien - Waren), unterzieht Vogt grundlegende Konzepte der Avantgarde unter anderem nach Bürger [1] in ihrer historischen Verortung und Tragfähigkeit einer Revision. Dabei geht es Vogt um die Etablierung eines kunsthistorisch "weichen Übergangs", bei dem die bisherige anhand von (Zeitungs-)Collagen Picassos und Readymades Marcel Duchamps konstruierte Trennung zwischen 19. und 20. Jahrhundert sowie Akademie und Avantgarden relativiert wird.
Der zunächst etwas sperrige, da in der Kunstgeschichte wenig gebräuchliche Begriff des 'Artikels' offenbart einleitend sein mehrdeutiges Potential. Als Wortart, publizierte Texteinheit (in Form von Kunstkritik in zahlreichen Publikationsorganen) sowie dem Aspekt der käuflichen Ware impliziert er strukturelle Zusammenhänge von Kommunizierbarkeit und Konsumierbarkeit und schließt zudem Rezeption sowie Produktion mit ein (25).
Unter der Prämisse "Relativierung des Vielbeachteten" werden im ersten Kapitel rezeptions- und produktionsästhetische Aspekte von Edgar Degas' Petite danseuse de quatorze ans, 1881, ausgehend von Buchlohs [2] Setzung dieses Werks als Anfangspunkt der modernen Skulptur aufgrund künstlerischer Strategien der Fragmentierung und Juxtapositionierung in den Blick genommen. Als zeitgleich ausgestellter "akademischer" Gegenpol fungiert Jean-Désiré Ringel d'Illzachs Splendeur et misère, in dem Sonnenschirm, Sonnenbrille und Tropenhut (im Gegensatz zu Degas extra angefertigter Ausstattung der Tänzerin vermutlich durchaus Kaufhaus-Artikel) die Terrakotta komplettieren. Die Kunstkritik tut unter anderem in der Person Joris-Karl Huysmans ihr Übriges bei der Etablierung eines ideologischen Narrativs der Moderne, das sich auf die Verwendung scheinbar alltäglicher, kunstferner Materialien stützt, obschon zeitgleich auf beiden Seiten akademischer Norm vorhanden - allein bereits im Zuge plastischer Vorarbeiten unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Materialien (Wachs, Ton, Stoff). Degas Vorgehen unterscheidet sich also "nicht kategorial von zeitgenössischen und nachfolgenden Werken, sondern höchstens graduell in der Art und Weise der Verwendung der Materialien" (54). Über Duchamps Readymade werden Autorschaftskonzepte und -konstruktionen der Moderne hinsichtlich ihrer Individualität und Kollektivität anhand der bereits vorher von den Dekorateuren ("Kuratoren") der im Kaufhaus als ästhetische Objekte präsentierten Waren weiterverfolgt. Ob jedoch Objekte wie der Flaschentrockner (1914) oder Urinale (1917) in diese Kategorie fallen, bleibt aufgrund fehlender Quellen fraglich, ebenso, inwiefern sie tatsächlich im allgemeinen oder im speziellen bei Duchamp der Idee der visuellen Massenkultur entsprechen oder industrialisierte Fertigung bzw. Serienproduktion oder vielmehr manufakturielle Herstellung nahelegen, wofür Panhans-Bühler bereits erste Anhaltspunkte zu geben versucht hat. [3]
Eine weitere Zäsur, angesiedelt durch unter anderem Rosalind Krauss bei Picassos Collagen wie Le Violon 1912 (1992, 1998), demontiert Vogt durch den Verweis auf künstlerische Strategien und technische Arbeitsprozesse der publizistischen Druckgrafik, indem er argumentiert, dass hier kollaboratives Arbeiten sowie collageartige Techniken bei Erstellung von Druckvorlagen bereits gängige Praxis waren. [4]
Die "Aufwertung des Nichtbeachteten" erfolgt im zweiten Kapitel anhand eines Frühwerks von Monet, Le Dejeuner 1868, erst 1874 im "Salon des Impressionistes" präsentiert. Ausgehend von einer ausführlichen Bildanalyse, basierend auf innerbildlichen Bezügen durch richtungsweisende Linienführung in Bildraum und -fläche, rückt die bisher wenig beachtete Zeitung in den Fokus. Deren erkennbare Titelbuchstaben "LE FI" lassen Vogt hierin einen Hinweis auf den unehelichen Sohn Monets an der gegenüberliegenden Tischseite vermuten. Monet überträgt so rezeptive Strategien der Populärkultur beim Entschlüsseln von Rebus-Rätseln, zu damaliger Zeit in der Presse weit verbreitet, auf die Malerei. Titelmajuskeln und Zeitungsblätter dienen Renoir, Cézanne, Cassat und Baudry nicht nur als formales Experimentierfeld, sondern vor allem als Reflexion über medien- und gattungsspezifische Fragen im Hinblick auf Zeitung und Leinwand als Informationsträger, wobei Vogt eine stete Ambiguität letzterer zwischen biografisch-historischem Kommentar, Genre- und Historienmalerei und symbolischer Fiktion postuliert.
Schließlich widmet sich Vogt im dritten Kapitel den Buchstaben zwischen Bedeutung und Ästhetik. In ihrer Unentzifferbarkeit und Ambiguität bei Monet oder Renoir konterkarieren sie eine textbasierte akademische Rezeptionspraxis. Über Theorie und Praxis des Rebus führt die Argumentation zu Freuds Traumdeutung und zur Ikonologie Panofskys, um diese auf außerhalb des Bildes liegende Informationen zurückgreifende, oftmals textbasierte Methode der Kunstgeschichte mit Daniel Arasse einer kritischen Betrachtung zu unterwerfen. In Ermangelung solcher Prätexte in der Moderne blühen Interpretation und Kunstkritik als nachträgliche Paratexte, wie anhand von Monets Dejeuner gezeigt wird. Mit Arasse und Georges Didi-Huberman widmet sich Vogt ebenfalls dem Methodenproblem der Überinterpretation, die jedoch als Reflexion der eigenen methodischen Grenzen ihre Legitimation erfährt. Anti-akademische und avantgardistische Kunst verweigern sich traditioneller Ikonografie und an Prätexte rückgebundener Ikonologie, wodurch bildimmanente Herangehensweisen zwingend nötig werden - so versteht sich die Analyse eingangs auch als "Kritik an einer maßgeblich induktiv operierenden Kunstgeschichtsschreibung" und möchte "mittels exemplarischer Analysen eine deduktive Überprüfung vornehmen" (30).
Die äußerst komplexe Studie verlangt dem Leser einiges ab. Besonders die allgemeine Forschungskritik setzt eine gründliche Kenntnis der Argumentation der genannten Autoren voraus, da deren Thesen verständlicherweise nur pointiert und verkürzt wiedergegeben werden können, was auch aufgrund des zurückhaltenden Fußnotenapparates bisweilen deren Relevanz und Position in den als grundlegend zitierten Werken nicht gerecht wird. Die Frage nach den Gründen und Auswirkungen einer solchen "Kunstgeschichte des Bruches" gerät dabei etwas zu kurz. "Revisionistische Texte, die zwar die Mythenbildung kritisieren, aber immer noch eine Kunstgeschichte des Bruches fortschreiben" (7) werden von Vogt zwar bereits auf der ersten Seite problematisiert- der Publikation hätte es aber auch nicht geschadet, diese konstruierten Brüche nicht zum Anlass und Ausgangspunkt zu nehmen, sondern die komplexen und hochinteressanten Analysen mit der Intention der Auflockerung eines stringenten Narrativs der Moderne für sich sprechen zu lassen.
Anmerkungen:
[1] Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974; Thomas Crow: Modernism and mass culture in the visual arts [1984], in: Modernism and Modernity. The Vancouver conference papers, hgg. von Benjamin H.D. Buchloh / Serge Guilbaut / David Solin, Halifax 2004, 215-264.
[2] Benjamin H.D. Buchloh: Neo-Avantgarde and culture industry. Essays on European and American art from 1955-1975, Cambridge / London 2003.
[3] Ursula Panhans-Bühler: Gegeben sei: die Gabe. Duchamps Flaschentrockner in der vierten Dimension, Hamburg 2009.
[4] Rosalind E. Krauss: The motivation of the sign, in: Picasso and Braque. A symposium, hg. von Lynn Zelevansky, New York 1992, 261-286; dies.: The Picasso papers, Gordonsville 1998.
Tobias Vogt: Artikel der Kunst. Alltagsobjekt und Wortspiel in den Pariser Bildkünsten des 19. Jahrhunderts (= Berliner Schriften zur Kunst), München: Wilhelm Fink 2019, 384 S., 17 Farb-, 218 s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6291-6, EUR 44,90
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