Intellektuelle Biografien bündeln stets Zeitläufte wie unter einem Brennglas. Weitaus mehr Fäden des komplexen Geflechts aus Ereignissen, Begegnungen, Freundschaften, Lektüren, Forschungsreisen, Schreibphasen, Arbeitsaufträgen, politischen Zwängen und institutionellen Vorgaben, das wir im Nachhinein vereinfachend 'Geschichte' nennen, aber geraten in den Blick, wenn Rückschau auf eine intellektuelle Ehe [1] gehalten wird. Eben dies erlaubt nun ein prächtiger Bildband, der anhand von Fotografien, faksimilierten Briefen, Arbeitsnotizen, aber auch Reproduktionen einer Kunstsammlung nachzeichnet, welche Bezugssysteme sich das Ehepaar Sigfried Giedion (1888-1968) und Carola Giedion-Welcker (1893-1979) im Laufe des 20. Jahrhunderts erschlossen hat.
Die Herausgeberin, die Kunsthistorikerin Almut Grunewald, hat das reichhaltige Material, das teilweise als Privatnachlass Sigfried Giedions im Archiv des gta der ETH aufbewahrt wird, vor allem aber lange Zeit unbemerkt auf dem Dachboden der einst von den Giedions bewohnten Villa Doldertal 7 in Zürich schlummerte, "sorgfältig erschlossen und mit viel Wissen und Fingerspitzengefühl zum Sprechen gebracht" (3), wie Monica Giedion-Risch dankbar und anerkennend schreibt. Nachdem ihr Mann, der Kinderradiologe Andres Giedion, der das Haus seiner Eltern kaum verändert hatte, 2013 verstorben war, tat sich dort eine wahre Fundgrube auf. Zum Vorschein kamen Fotografien, zumeist von Sigfried Giedion selbst aufgenommen, Tagebücher, Manuskripte, eine Bibliothek, mehr als tausend Briefe, geschrieben von illustren Weggefährten wie Constantin Brancusi, Alvar Aalto, Marcel Breuer, Ilse Gropius und Herbert Read, und nicht zuletzt die Korrespondenz, der die Publikation ihren Untertitel verdankt: Sigfried Giedion und Carola Welcker im Dialog. Die häufige, zuweilen jahrelange räumliche Trennung überbrückten die beiden Moderne-Forscher nämlich durch eine Flut von liebevoll geschriebenen, aufmunternden Briefen, die zwischen" C.W." und "S.G." kursierten. Da ist von Ausstellungen und Vorlesungen die Rede, von Kunst und Architektur, von Schreibdämonen, die Kräfte binden, von Hotels und Schiffspassagen, von Geldsorgen und gemeinsamen Freunden, von Barbesuchen und Skitouren.
Die Wege von Carola Welcker und Sigfried Giedion kreuzten sich erstmals 1915 in München: Der Schweizer Fabrikantensohn, der in Prag geboren und in Wien aufgewachsen war, und die Kölner Bankierstochter, deren Mutter aus den USA stammte, studierten Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin. Ein Privatissimum besonderer Art hielt Sigfried Giedion 1918 auf einer unscharfen Schwarzweißfotografie fest: Auf einem Segelboot, das über den Starnberger See gleitet, sitzt Heinrich Wölfflin neben Carola Welcker und genießt die ausgelassene Stimmung. Die weiteren Stationen des Paares ziehen in elf Bildkapiteln, durch farbiges Papier klar voneinander zu unterscheiden, filmisch vorüber. Fünf weitere, chronologisch geordnete Kapitel stellen die über fünf Jahrzehnte währende Korrespondenz der beiden in den Mittelpunkt und geben dem Buch - analog zum Stahlskelett einer modernen Produktionshalle - eine stabile Struktur.
Carola Welcker und Sigfried Giedion heirateten 1919 und wurden 1922 zeitgleich zu Themen des Spätbarock promoviert: er bei Heinrich Wölfflin in München, sie bei Paul Clemen in Bonn. Nach Ausflügen in die Theaterszene und die Kunstkritik ließen sie sich Mitte der Zwanziger Jahre in Zürich nieder, kümmerten sich um ihre beiden Kinder und vertieften sich in ihre Arbeit. Er konzentrierte sich auf das Neue Bauen und legte die Publikationen Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton (1928) sowie Befreites Wohnen (1929) vor. Sie verfasste Aufsätze über die Sprachexperimente von James Joyce und brach mit ihrem Überblickswerk Moderne Plastik (1937) eine Lanze für eine Kunst, die sich über Raumauffassung, Volumen, Licht und Materialität definiert. Das "Power-Paar der Moderne" (7) spürte die Kraftfelder der Moderne nicht nur in der Architektur, Kunst und Literatur auf, sondern entwickelte auch einen dynamischen Lebensstil, der beiden gleichermaßen die Möglichkeit einräumte, Karriere zu machen. Ihrem Arbeitspensum entsprechend fanden sie einen Lebensrhythmus, in dem sich Phasen der Geselligkeit mit Phasen der Ruhe abwechselten. Mal hatten sie László und Lucia Moholy-Nagy, Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Piet Mondrian oder Kurt Schwitters zu Gast, mal waren sie ohne Unterlass unterwegs und erweiterten ihren ohnehin schon großen internationalen Bekanntenkreis. Dann wieder zogen sie sich monatelang ins Tessin oder an den Vierwaldstättersee zurück, um in Ruhe lesen und schreiben zu können.
1938 wurde Giedion durch Vermittlung von Walter Gropius für die Charles Eliot Norton Lectures nach Harvard berufen. Im Oktober 1941 hielt er in Yale die Townbridge Lectures. Carola Giedion-Welcker versorgte derweil in Zürich allein Haus und Kinder. Der Tod von James Joyce im Januar 1941 traf sie schwer. Da der Kriegseintritt der USA das Reisen unmöglich machte, verlief das Leben des Paares bis zu Giedions Wiederkehr nach Zürich im Dezember 1945 aus großer Entfernung in parallelen Bahnen. Aber auch in den 1950er Jahren wurden Arbeitsvorhaben noch über den Atlantik hinweg in Briefen diskutiert. So schrieb Giedion 1955: "Dass du dir das Arpbuch auferlegen lässt, ist nicht sehr begrüßenswert. Biografien, das habe ich nun erfahren, sind ein undankbares Geschäft. Denn der Autor ist irgendwie doch verschnupft, dass er nicht in den Himmel gehoben wird und die Kritik wirft - siehe Gropiusbuch - dir vor, dass du unkritisch bist (...). Ich rühre keine Biografie mehr an!" (10)
Glücklicherweise hat sich Almut Grunewald diesen Ratschlag nicht zu Herzen genommen. Ihre vom Bildmaterial ausgehende Auswertung des Archivmaterials, die den Kosmos des Paares erschließt, ergänzt auf ideale Weise die intellektuelle Biografie Giedions, die Sokratis Georgiadis 1989 vorgelegt hat, sowie Iris Bruderer-Oswalds Monografie über Carola Giedion-Welcker und die Sprache der Moderne aus dem Jahr 2007.
Ganz nebenbei erweist sich Grunewalds Bildband als wichtiger Beitrag zur Interieurforschung. Wer schon immer wissen wollte, wie eine Spezialistin für die Skulptur der Moderne und ein Architekturkritiker, der mit Büchern wie Space, Time and Architecture (1941) und Mechanization Takes Command (1948) als einer der ersten auf standardisiertes und typisiertes Arbeiten und Wohnen aufmerksam gemacht hatte, sich gemeinsam in der Welt einrichteten, kommt angesichts der Farbfotografien im Buch auf seine Kosten. In diesen Lebensräumen, in denen sich Jahrzehnte lang Freunde und Studierende wohl gefühlt haben, war die ganze Welt zu Hause. Bücher stapelten sich auf Tischen, Gemälde und Zeichnungen integrierten sich vortrefflich in überquellende Bücherregale, Freischwinger von Alvar Aalto verstanden sich prächtig mit barocken Heiligenfiguren und Berberteppiche erwiesen sich als ideale Unterlage für eine Stahlbandliege von Marcel Breuer. So inhomogen also sieht eine Umgebung von Dingen und Menschen aus, die sich, um es mit Hannah Ahrendt zu sagen, "dem handelnden Organisieren der politischen Bezüge in menschlichen Gemeinschaften verdankt". Ein passenderes Andenken an das tätige Leben dieses enorm produktiven Forscherpaares lässt sich kaum vorstellen.
Anmerkungen:
[1] Hannelore Schlaffer: Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar. München 2011.
[2] Sokratis Georgiadis: Sigfried Giedion. Eine intellektuelle Biographie. Zürich 1989.
[3] Iris Bruderer-Oswald: Das Neue Sehen. Carola Giedion-Welcker und die Sprache der Moderne. Bern 2007.
[4] Hannah Ahrendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 1981, hier 27.
Almut Grunewald (Hg.): Die Welt der Giedions. Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker im Dialog, Zürich: Verlag Scheidegger & Spiess 2019, 417 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-85881-610-8, EUR 97,00
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