Die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes fragen, wie es um das Geschichtsschulbuch zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehe. Das Gros der Beiträge erlaubt die Antwort: Es könnte besser sein. Neben dem Urteil selbst ist der Prozess der Urteilsfindung in diesem Band besonders aufschlussreich, da die Mehrzahl der Beiträge auf gewinnbringende Weise empirische Forschungsmethoden zur Schulbuchanalyse verwendet.
Der Band präsentiert die Ergebnisse der Abschlusstagung des geschichtsdidaktischen COAHT-Projektes (Competence and Academic Orientation in History Textbooks), das zwischen 2015 und 2019 vom österreichischen Wissenschaftsfonds gefördert wurde. [1] Die neun versammelten Beiträge deutscher und österreichischer Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker gliedern sich - analog des COAHT-Forschungsdesigns - in drei Themenbereiche: Empirische Forschungszugänge zur Verwendung des Geschichtsschulbuches, Lehren und Lernen mit dem Geschichtsschulbuch sowie Weiterentwicklung von Geschichtsschulbüchern. Den Herausgebern des Bandes, Christoph Kühberger, Roland Bernhard und Christoph Bramann, ist zuzustimmen, wenn sie in ihrer Einleitung die Komplexität des COAHT-Projektes hervorheben. Ein differenziertes empirisches Methoden-Set ermöglicht beeindruckende Forschungsergebnisse zur Nutzung von Schulbüchern im Geschichtsunterricht, wodurch eine große Lücke in der geschichtsdidaktischen Schulbuchforschung geschlossen wird.
Die empirische Erforschung der unterrichtspraktischen Verwendung von Geschichtsbüchern in Österreich thematisieren Christoph Kühberger und Roland Bernhard in ihren Beiträgen. Christoph Kühberger skizziert den Mixed-Methods-Ansatz des Projekts und die Ergebnisse der quantitativen Befragung österreichischer Lehrkräfte zur Häufigkeit des Einsatzes von Geschichtsbüchern im Unterricht. Deutlich werden dabei signifikante Korrelationen zwischen der Schulbuchverwendung und dem (Dienst-) Alter der Befragten, den gehaltenen Wochenstunden sowie der Anzahl der besuchten geschichtsdidaktischen Lehrveranstaltungen. Dass es einer qualifizierten professionellen Routine im Umgang mit dem Geschichtsschulbuch bedarf, unterstreichen auch die Ergebnisse der Studie von Roland Bernhard. Er stellt auf der Grundlage seiner Triangulationsstudie aus videografierten Geschichtsstunden, beobachteten Unterrichtsstunden und Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern fest, dass Geschichtsbücher (oder Kopien daraus) in 39 Prozent der Gesamtzeit des beobachteten Unterrichts eingesetzt würden. Das "gemeinsame Lesen und Besprechen von Inhalten aus dem Schulbuch" (42) sei dabei die häufigste Form der Schulbuchnutzung. Diese Lehrerzentrierung sei ein Merkmal für den gymnasialen Geschichtsunterricht in Österreich, denn in der Neuen Mittelschule dominiere eine "handlungsorientierte, aufgabenbasierte Schulbucharbeit" (51), so Bernhard.
Die übrigen Beiträge entstanden außerhalb des COAHT-Projekts und untersuchen Geschichtsbücher im Hinblick auf unterschiedliche geschichtsdidaktische Fragestellungen. Waltraud Schreiber, Wolfgang Wagner, Ulrich Trautwein und Ulf Brefeld beleuchten den Einsatz eines digitalen Geschichtsbuches, dem mBook Belgien. Neben der ausführlichen Darstellung und Problematisierung der Forschungsmethoden stellen sie fest, dass "das Vorlegen digital-multimedialer Lehr-Lernmaterialien" zur Förderung historischer Lernprozesse bei Schülerinnen und Schülern nicht ausreiche, sondern "deren Nutzung nicht zuletzt an Kontextbedingungen geknüpft ist, die die Lehrkräfte betreffen." (75) Deren Rolle betont auch Christian Heuer, indem er dafür plädiert, die Fähigkeit zur Konstruktion von Lernaufgaben nicht nur bei Schulbuchautorinnen und -autoren anzusiedeln, sondern ebenso (nach Heuer: vor allen Dingen) bei Geschichtslehrerinnen und -lehrern.
Heinrich Ammerer, Wolfgang Buchberger und Holger Thünemann bedienen sich klassischer Methoden der Schulbuchforschung, um geschichtsdidaktische Fragestellungen zu beleuchten. [2] Heinrich Ammerer hinterfragt den Einsatz von Bildern in österreichischen Geschichtsbüchern und erarbeitet didaktische Hilfestellungen zur Bildverwendung im Unterricht. Wolfgang Buchberger analysiert die Verwendung von schriftlichen Quellen in drei österreichischen Schulbuchreihen. Beide Beiträge gelangen zu ähnlichen Ergebnissen: Sowohl Bilder als auch Textquellen würden zu illustrativen Zwecken verwendet. In Bezug auf Textquellen stellt Buchberger fest, dass die Perspektivität der Quellen aufgrund fehlender Begleitinformationen für Lernende kaum zu erkennen sei und dass dem Prinzip der Multiperspektivität beim Einsatz von Textquellen "nur mangelhaft" (118) nachgekommen werde. Holger Thünemann untersucht 19 aktuelle nordrhein-westfälische Geschichtsbücher und das mBook im Hinblick auf Herausforderungen für Lehrkräfte durch "ungelöste geschichtsdidaktische Probleme" (83) wie die ethnozentrische Dominanz bei der Inhaltsauswahl, die Reflexion des Konstruktcharakters historischer Narrationen sowie die Formulierung von Aufgaben und Verwendung von Operatoren. Zwei seiner Ergebnisse sollen besonders betont werden: Zum einen stellt Holger Thünemann fest, dass ein "differenziertes Professionswissen" (91) im Umgang mit dem Lehrbuch für Geschichtslehrerinnen und -lehrer unabdingbar bleibe und zum anderen zeige sich, dass die analogen Schulbücher dem mBook "keineswegs unterlegen" (92) seien.
Christoph Bramann und Nicola Brauch beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit Aufgaben in Geschichtsbüchern. Christoph Bramann wählt eine kategoriale Schulbuchanalyse unter Zuhilfenahme empirischer Forschungsmethoden, um die Kompetenzorientierung von 188 Schulbuchaufgaben zu untersuchen. Er kommt zu dem Schluss, dass "nur ein knappes Viertel" (176) der Arbeitsaufträge geeignet sei, um Kompetenzen im Sinne des FUER-Modells zu fördern. Nicola Brauch nimmt eine explorative Einzelfallanalyse vor und schlägt "die Entwicklung fachspezifischer Instrumente zur Antizipation von Aufgabenschwierigkeiten im Bereich der Reproduktion" (188) vor. Exemplarisch entwickelt sie mithilfe eines epistemologischen Kategoriensystems ein Scaffolding, das Lernende beim Textverständnis und der Bearbeitung von Aufgaben unterstützen kann.
Fasst man die Ergebnisse der Beiträge zusammen, ergibt sich weit mehr als eine Bestandsaufnahme der geschichtsdidaktischen Schulbuchforschung zu Beginn des 21. Jahrhundert. Drei Aspekte treten dabei besonders deutlich hervor: Erstens wird die geschichtsdidaktische Schulbuchforschung um Erkenntnisse zur unterrichtspraktischen Verwendung von Geschichtsbüchern bereichert, die über Selbstauskünfte von Lehrkräften hinausgehen. Zweitens gibt der Band zahlreiche wichtige Impulse für den Umgang mit dem Schulbuch im Geschichtsunterricht. Bereits in der Ausbildung sollten Lehrkräften auf den qualifizierten Umgang vorbereitet werden, um Arbeitsaufträge, Bilder, Quellen und Darstellungstexte geschichtsdidaktisch reflektieren zu können. Drittens werden für Schulbuchverlage sowie -autorinnen und -autoren eine Vielzahl von Überarbeitungs- und Verbesserungsvorschlägen formuliert, um historische Lernprozesse mit dem Geschichtsschulbuch erfolgreicher zu gestalten.
Anmerkungen:
[1] Seit 2015 sind zahlreiche Publikationen im Rahmen des COAHT-Projekts erschienen, z.B. Christoph Kühberger / Philipp Mittnik: Empirische Geschichtsschulbuchforschung in Österreich, Innsbruck / Wien 2015; Roland Bernhard / Christoph Bramann / Christoph Kühberger: Historisch Denken lernen mit Schulbüchern, Frankfurt am Main 2018; Ulrike Kipman / Christoph Kühberger: Zur Nutzung des Geschichtsschulbuches. Eine Large-Scale-Untersuchung bei Schüler_Innen und Lehrer_Innen in Österreich, Wiesbaden 2019.
[2] Eine ausführliche Übersicht der Methoden der Schulbuchforschung in Etienne Schinkel: Schulbuchanalyse (Stichworte zur Geschichtsdidaktik), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), H. 7-8, 482-498.
Christoph Kühberger / Roland Bernhard / Christoph Bramann (Hgg.): Das Geschichtsschulbuch. Lehren - Lernen - Forschen (= Salzburger Beiträge zur Lehrer/innen/bildung; Bd. 6), Münster: Waxmann 2019, 208 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8309-4072-2, EUR 27,90
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