Das nach einem Streit mit Paul Gauguin abgeschnittene linke Ohr, die dem routinierten Absinth-Missbrauch geschuldeten Rauschzustände, die Verzweiflungstat seines Selbstmordes im Juli 1890, sowie der vermeintliche ökonomische Misserfolg als Künstler zu Lebzeiten, all dies trug zum Mythos van Gogh zwischen verkanntem Künstlergenie und Wahnsinn bei. "MAKING VAN GOGH" - unter diesem Titel beleuchtete zuletzt das Frankfurter Städel in einer groß angelegten Ausstellung die Konstruktion eines posthumen Zerrbildes. [1] Besonders Kunsthistoriker wie Julius Meier-Graefe, sein Bruder Theo und seine Schwägerin Johanna van Gogh-Bonger als Verwalterin des Nachlasses, sowie die Galeristen, Sammler, Kritiker und Museen hatten Anteil an dieser Erzählung.
Monika Kasper verlässt dieses eng gedachte Feld des Systems "Kunst" und zeigt wie die Bilder van Goghs in Resonanz mit poetischen und philosophischen Konzepten treten. Die Autorin untersucht mit ihrem Buch "Wirklichkeit und Wahn. Van Gogh in Literatur und Philosophie" die Interferenzen zwischen Bild und Text anhand der im Titel bereits genannten beiden Topoi. Dem Diktum "ut pictura poesis" nach Horaz' Ars poetica folgend attestiert die Autorin in dem mehrere Einzelaufsätze fassenden Band dem Œuvre von Vincent van Gogh eine weltanschauliche, formale und kunsttheoretische Wirkung auf Schriftsteller und Philosophen des 20. Jahrhunderts. Das Verhältnis ist aber kein einseitiges - Kasper blickt durch das literarische und philosophische Prisma der jeweiligen Positionen wieder zurück auf van Gogh. Genau dieser Rückschluss birgt Potential: Die Autorin schafft es in ihren Bildbeschreibungen und -analysen einen innovativen Ansatz für die Interpretation des Werks van Goghs zu entwickeln.
Als Einleitung schiebt Monika Kasper einen Vergleich van Goghs mit dem Schweizer Maler und Radierer Albert Welti vor, der als Schüler Arnold Böcklins dem Symbolismus nahesteht. Anhand dessen illustriert Kasper die malerischen Innovationen van Goghs gegenüber seinen Zeitgenossen. Dennoch beschäftigt sich das vorliegende Buch nicht vorwiegend mit derart entwicklungstheoretischen Fragestellungen der Kunstgeschichte.
Das erste Kapitel "Mit Farben sprechen - mit Worten malen" bietet einen Überblick über die Theorie der Text-Bild-Beziehung. Ein kurzes Resümee der breiten und vielschichtigen Forschungsliteratur gibt eine Einführung in die Diskussion aus der Perspektive der Literaturwissenschaften. Sie zeigt, dass Ekphrasis als rhetorische Disziplin seit der Antike existiert und welche Möglichkeiten und Grenzen eine literarische Bildbeschreibung eröffnet.
Als ein klassisches Beispiel wird die lyrische Ekphrasis "Unter ein Bild" von Paul Celan angeführt, welches das "Kornfeld mit Raben" (1890) von van Gogh als Bildgedicht aufgreift. Das Gedicht veranschaulicht die inhaltlichen, formalen und wirkungsästhetischen Gegebenheiten des Gemäldes; sogar malerische Verfahrensweisen werden anhand des Gedichts sichtbar.
Diese symbiotische Kongruenz beider Gattungen ist aber keine selbstverständliche, da im Paragone besonders Malerei und Dichtung im Wettstreit stehen. Mit Anbruch der Moderne im 18. Jahrhunderts wird dieses Verhältnis zunehmend problematisiert. In Deutschland betont Lessing im Laokoon (1766), dass die Dichtkunst lediglich die zeitliche Abfolge, die bildende Kunst hingegen die Gleichzeitigkeit darstelle; und in Frankreich greift Denis Diderot die Differenzierungen von Jean-Baptiste Dubos' Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (1719) auf. [2] Mit der Infragestellung eines herkömmlichen Kunstbegriffs und dem Aufkommen intermedialer Ansätze in der Kunstpraxis des 20. Jahrhunderts steht das Verhältnis von Literatur und Kunst erneut zur Disposition. Die Grundfrage der gattungsübergreifenden Interferenzen von Bild und Wort ist daher von unveränderter Aktualität.
Das zweite Kapitel widmet sich der Wirklichkeit in der Moderne, welches als dynamisches Konzept der Philosophie immer wieder neu zu definieren war. Die Schriftsteller des fin de siècle fanden sich angesichts des radikalen Wandels der Lebensrealität mit einer Sprachkrise konfrontiert, die neue Formen für einen angemessenen Ausdruck provozierte. Hier führt die Autorin aus, wie für Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannstahl die unkonventionelle Lebensführung van Goghs und das Naturverständnis in der gesteigerten Ausdruckskraft seiner Malerei ihr dichtungstheoretisches Verständnis von Wirklichkeit veränderte. Auf dem Weg zum "Ursprung des Kunstwerks" entdeckt Martin Heidegger van Goghs Schuhe als Vehikel für sein philosophisches Konzept zur Scheidung zwischen Kunstwerk und dem alltäglichen Ding.
Der medizin- und kulturgeschichtlich nur schwer zu fassende Begriff des Wahnsinns ist Gegenstand des dritten Kapitels und zentriert sich um van Gogh als neurotisches Genie im freudianischen Sinne, das einen privilegierten Zugang zum Unbewussten hat. So befassen sich die drei Autoren Karl Jaspers, Rose Ausländer und Antonin Artaud mit gesellschaftlicher Norm und Abweichung vom Kollektiv aus der Perspektive seiner psychischen Krankheit. Den Abschluss bildet Thomas Kling, der in seiner Dichtung auf das aus dem Gleichgewicht gekommene Verhältnis von Ökonomie und Kultur anhand der Preisentwicklung für die Gemälde van Goghs aufmerksam macht.
Die Heterogenität der ausgeführten Konzepte und ihrer zahlreichen Bezüge auf van Gogh ist im Gegenstand selbst veranlagt. Ein einheitliches Modell von Wirklichkeit oder Wahn liefert Monika Kasper nicht. Denn die Pluralität der vorgestellten Positionen ist den Umständen und Geisteshaltungen der Moderne selbst geschuldet. Zudem orientiert sich die Hauptargumentationsführung der Bilddeutung durch die oben genannten Autoren stark an der geistigen Verfasstheit und Biografie des Künstlers. Von einer biografisch-psychologisierenden Kunstgeschichte wurde in der Fortentwicklung des Methodenspektrums des Faches immer mehr Abstand genommen. [3] Interessant ist trotzdem, wie diese Motivik in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext verortet wird.
Monika Kasper führt in diesem Buch ihre Studienschwerpunkte Germanistik, Komparatistik und Philosophie zusammen. In ihren einzelnen Fallstudien verbindet die Autorin Beobachtungsgabe in der Bildbeschreibung mit präzisen Textanalysen, und tätigt daraus wiederum Rückschlüsse auf die Relation von Wirklichkeit und Wahn auf die Kunst van Goghs. Das Buch bietet für ein breites Publikum eine Einführung in die interdisziplinäre Forschung und die allgemeine Hinwendung zum Bild, die Anfang der 1990er als iconic turn proklamiert wurde. [4] In Analogie zum linguistic turn in der Philosophie der 1960er sollen mit der Fokussierung auf das Bild neue epistemische Verfahren für die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gewonnen werden. Darüber hinaus lässt die Autorin in ihren Ausführungen historische Betrachter in längeren Zitaten zu Wort kommen und leistet einen interessanten Beitrag zur Rezeptionsgeschichte van Goghs. Die ästhetischen Erfahrungen der Rezipienten werden nachvollziehbar in ihren Reflexionen und Diskursen der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts dargelegt.
Anmerkungen:
[1] 23. Oktober 2019 bis 16. Februar 2020, vgl.: Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe, hg. von Alexander Eiling, Ausst.-Kat., München 2019.
[2] Hubertus Kohle: Ut pictura poesis non erit. Denis Diderots Kunstbegriff, Hildesheim [u. a.] 1989, URL: https://epub.ub.uni-muenchen.de/4708/1/4708.pdf.
[3] Magdalena Bushart: "Form" und "Gestalt". Zur Psychologisierung der Kunstgeschichte um 1900, in: Krise des Historismus - Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880-1932, hg. von Otto Gerhard Oexle, Göttingen 2007, 147-179, URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2019/6308.
[4] Vgl. Gottfried Boehm: Was ist ein Bild?, München 1994 und W. J. T. Mitchell: Picture theory. Essays on verbal and visual representation, Chicago [u. a.] 1994.
Monika Kasper: Wirklichkeit und Wahn. Van Gogh in Literatur und Philosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, 318 S., 55 Farbabb., ISBN 978-3-8260-6237-7, EUR 48,00
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