Im Zentrum der von Maciej Górny vorgelegten Studie steht der sogenannte "Krieg der Geister" ("war of the spirits", 1) - ein zeitgenössischer Begriff, der die im Zuge des Ersten Weltkriegs entbrannte publizistische Schlacht europäischer Intellektueller und Wissenschaftler im Dienst der nationalen Sache beschreibt. Konzentrierte sich die historische Forschung bisher auf die Westfront und damit vor allem die deutsch-französische Dimension dieser nationalisierten Wissenschaftskulturen, schließt das vorliegende Buch eine Forschungslücke, indem es die bisher weniger beachtete Ostfront in den Mittelpunkt rückt. Dabei ist es gerade ein Verdienst des Verfassers, diese Dichotomien im Sinne einer histoire croisée aufzulösen und die wechselseitige Beeinflussung wie Verflechtung west- und osteuropäischer Wissenschaftler im Ersten Weltkrieg nachzuzeichnen.
Górny stellt drei, bei Ausbruch des Krieges noch junge humanwissenschaftliche Disziplinen in den Mittelpunkt - Geografie, Anthropologie und Psychologie. Grundlegend für das Verständnis der Entwicklung sowie der nationalen Mobilisierung dieser Disziplinen im Ersten Weltkrieg sei der europäische Diskurs um Nationalcharaktere des 18. und 19. Jahrhunderts - eine "national characterology" (7), die der Verfasser im ersten Kapitel untersucht. Dabei werden die Elemente dieser nationalen Charakterologien identifiziert, welche die spätere Wissensproduktion beeinflussten. Verwiesen sei hier auf die Gegensatzpaare "West/Ost" sowie "männlich/weiblich", die über die ihnen jeweils zugeschriebenen Eigenschaften die nationalen Charakterbilder prägten. Zugleich zeige sich innerhalb dieser nicht selten widersprüchlichen Zuschreibungen das Bedürfnis nach ihrer Systematisierung und Verwissenschaftlichung. Damit durchaus in Verbindung lasse sich der wirkmächtige Aufstieg von Rassenkonzepten und -theorien beobachten: "science-cum-characterology hybrids invoked the category of race" (24). Auf dieser Basis leuchtet Górny im zweiten Kapitel die Grundzüge des "Krieges der Geister" an der West- wie Ostfront aus. Der Verfasser plädiert dafür, die Wissensproduktion in Ost- und Ostmitteleuropa während des Ersten Weltkrieges nicht allein als Rezeption oder Reproduktion des westeuropäischen Diskurses zu verstehen. Erstens seien die Konfliktlinien anders verlaufen: "these lines criss-crossed the territories of major powers, with the intellectual conflict often occuring outside of actual military operations" (90). Zweitens erstreckt sich der Untersuchungszeitraum der Studie vom Ersten Balkankrieg 1912 bis zur Pariser Botschafterkonferenz 1923: "East of Germany, the war did not begin in 1914, nor did it end in 1918" (ebenda).
Die folgenden drei Kapitel widmen sich den Disziplinen Geografie, Anthropologie und Psychologie sowie ihrer Mobilisierung im "Krieg der Geister". Die Wahl dieser Disziplinen reflektiert indes organizistische Vorstellungen im zeitgenössischen nationalen Denken: "Geography describes the shape of the national organism, [...]. Anthropology looked 'under the skin'", "psychology and psychiatry engaged the problem of mentality, the spiritual specifity of the national organism" (244). In allen drei Kapiteln zeigt Górny, wie stark, wenn auch auf jeweils unterschiedliche Weise, der Erste Weltkrieg die Entwicklung, Professionalisierung und Institutionalisierung dieser Disziplinen in Ost- und Ostmitteleuropa beeinflusst hat.
Die Geografie, die im Zentrum des dritten Kapitels steht, erfuhr im Zuge des Krieges und mit Blick auf dessen formales Ende in der Pariser Friedenskonferenz nicht nur eine gestiegene Bedeutung, sondern auch eine methodische Ausdifferenzierung. Hervorzuheben ist unter anderem der deutsche Einfluss auf ost- und ostmitteleuropäische Grenzdiskurse: Neben Friedrich Ratzels Territorialkonzept des "Lebensraums" wirkte insbesondere Albrecht Penck auf die nationalen Geografien ein, war er doch akademischer Lehrer von Geografen wie Eugeniusz Romer (Polen), Stepan Rudnyzkyj (Ukraine) und Jovan Cvijić (Serbien). Dabei drehte der Erste Weltkrieg die Richtung dieses Wissenstransfers um: "It was they who, during the war, acquired the skills and worked out the arguments that their German and Hungarian colleagues would go on to apply during the inter-war period" (161).
Ähnlich wie die Geografie erfuhr auch die Anthropologie, die der Verfasser im vierten Kapitel analysiert, einen Schub: Während Anthropologen in Kriegsgefangenen neue Studienobjekte fanden, konnte die junge Disziplin zugleich ihren Nutzen für die nationale Mobilisierung beweisen. Dabei zeigt sich gerade hier, wie sich Vorstellungen von Nationalcharakteren in die Wissensproduktion einschrieben: War es doch die im Ersten Weltkrieg aufgehobene Trennung von Rasse und Nation, die es Anthropologen erlaubte, im "Krieg der Geister" auf breiter Ebene Gehör zu finden. Ideologeme wie die insbesondere gegenüber Russland in Stellung gebrachte "Mongolization" (173) - die Vorstellung rassischer Degeneration - wurden zu breit gestreuten und auf verschiedene Weise adaptierten Kampfbegriffen. Die Beteiligung von Psychologen und Psychiatern am "Krieg der Geister", die den Gegenstand des fünften Kapitels bildet, stelle mit Blick auf die beiden anderen Disziplinen einen deutlicheren Bruch in der jungen Disziplingeschichte dar: "before the war there were almost no attempts in professional journals at fashioning hierarchies of psychological health by nationality" (228). Mit Ausbruch des Krieges, disziplinintern jedoch von Kritik begleitet, habe sich die nationale Mobilisierung auch in der Wissensproduktion der Psychologen und Psychiater gezeigt - etwa in der Attestierung von Massenpsychosen der jeweils nationalen Gegner.
Das als Anhang überschriebene letzte Kapitel identifiziert Elemente des "Krieges der Geister" bereits im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und folgt für sich genommen interessanten Argumenten, wirkt jedoch als Anhang etwas deplatziert. Bisweilen hätte man sich zudem im Verlauf der Studie an mancher Stelle einen detaillierteren Einblick in die Wissensproduktion gewünscht, der nicht nur an der Oberfläche publizierter Texte der Wissenschaftler verbleibt, sondern etwa aufzeigt, wie vor dem Hintergrund transnationaler Verflechtung der Akteure auf lokaler Ebene Erkenntnisse gewonnen wurden.
Trotz ihrer inhaltlichen Fülle legt Górny eine kompakte und gut lesbare Studie vor, die sich eines in der Historiografie des Ersten Weltkriegs weitestgehend unbearbeiteten Themas annimmt. Die Einbeziehung ost- und ostmitteleuropäischer Wissenschaftler und Intellektueller in die Erforschung des "Krieges der Geister" stellt nicht nur eine dankenswerte Erweiterung des Forschungsstandes dar, sondern erhellt diesen gerade aufgrund der Betonung seiner transnationalen Dimensionen und Wissenszirkulation auch als tatsächlich europäisches Phänomen.
Maciej Górny: Science embattled. Eastern European Intellectuals and the Great War, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, VI + 386 S., ISBN 978-3-506-78874-0, EUR 139,00
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