Kristin Böse widmet ihre Habilitationsschrift der frühmittelalterlichen Manuskriptkultur im christlichen Norden der Iberischen Halbinsel. Aus diesem geografischen Raum hat sich eine Fülle an Handschriften unterschiedlichster Textgattungen erhalten, die im 10. und 11. Jahrhundert mit auffällig elaborierten Eingangs- und Schlussseiten ausgestattet wurden, die den Texten voran- bzw. nachgestellt sind. Auf jene überwiegend abstrakt-ornamental gehaltenen "visuellen Rahmungen" (29) richtet Böse ihre Aufmerksamkeit - eine innovative Perspektive gegenüber einer kunsthistorischen Tradition, die bislang primär auf die narrativen Bildzyklen in den berühmten Apokalypsekommentaren des Beatus de Liébana fokussierte.
Die Studie zeichnet sich durch einen konzeptionell höchst reflektierten Ansatz aus. Zwar kann sie an vereinzelte Überlegungen aus der Kunstgeschichte zur Analogie von visuellen Eröffnungssequenzen und Prologen anknüpfen. Doch geht Böse entschieden darüber hinaus, indem sie an jüngere Tendenzen anschließt, die die Körper- und Objekthaftigkeit des Codex hervorhoben und ihn als raumhaltiges, (Sinn-)Räume eröffnendes und Beziehungen stiftendes Medium in den Blick rückten. [1] Böse betrachtet die Rahmenseiten nicht isoliert, sondern als Teil eines "Raum generierenden Darstellungssystems" (20) im Kontext des "mehrdimensionale[n] Gebilde[s] Codex" (168). Anknüpfend an Genettes Überlegungen zum 'Paratext' und Derridas Gedanken zum Parergon-Begriff [2] bestimmt Böse die zwischen innen und außen verorteten Seiten aus struktureller Perspektive als "Beziehungen stiftenden 'Zwischenraum'" (35). Sie fragt, wie die bildliche Gestaltung der Randzonen die Wahrnehmung der Texte, aber auch des Codex als Ganzes anleiten.
Der Herausforderung, dass viele Handschriften nachträglich Veränderungen erfuhren, wird die Gliederung des Buches in zwei Hauptteile gerecht. Der erste Teil beleuchtet zunächst ein kanonisches Set an Bildtypen, das die nordspanischen Rahmenseiten prägt. Zu nennen sind insbesondere die seitenfüllenden Zierbuchstaben Alpha und Omega, Kreuzzierseiten sowie Buchstabenlabyrinthe, denen die Autorin je ein Kapitel widmet. Das variantenreiche Zusammenspiel der Rahmenminiaturen im Hintereinander der Seiten sowie ihre strukturelle und inhaltliche Einbindung in den Handschriftenzusammenhang untersucht Böse im zweiten Teil genauer an Beispielen, die eine weitgehend originale Lagenstruktur aufweisen. Im Zentrum stehen der Codex Albedense, eine Sammlung von Rechtstexten, sowie der Girona-Beatus, deren unterschiedliche Rahmungsstrategien sie in eingehenden Analysen herausarbeitet. Am Silos-Beatus, in den Rahmenseiten aus einer älteren Handschrift eingebunden wurden, thematisiert sie unter Bezugnahme auf Ecos Konzept des 'offenen Kunstwerks' [3] die diachrone Rezeption von Manuskripten und die gängige Praxis nachträglicher Umarbeitungen.
Die etwa 29 von Böse untersuchten und in dem sorgfältig ausgearbeiteten Katalog aufgeführten Handschriften stammen überwiegend aus Klöstern, die sich im Zuge der frühen Phase der Ausdehnung der christlichen Herrschaftsgebiete auf vormals muslimischem Terrain in den Grenzzonen zu Al Andalus etablierten. Die argumentative Pointe von Böses Buch besteht darin, die spezifische Gestaltung der Randzonen der Codices mit der Randlage dieser Klöster in Verbindung zu bringen. Ihre Untersuchung ist im weiteren Feld jüngerer Forschungen angesiedelt, die die Kunstproduktion der Klöster vor dem Hintergrund ihrer Situation in der politisch, kulturell und militärisch dynamischen Grenzregion aus einer sozialhistorischen Perspektive in den Blick nehmen. So hatte zuletzt Richard K. Emmerson in einer kurz vor Böses Buch publizierten Monografie die Eigenart der Apokalypseminiaturen in der nordspanischen Buchkunst auf die Herausforderungen zurückgeführt, mit denen die Klöster in den Grenzgebieten konfrontiert waren. [4] Böses Studie setzt nun grundsätzlicher an: Sie fragt nach dem Status des Mediums Codex und der Manuskriptproduktion für die monastischen Gemeinschaften in der Frühzeit der Eroberungen, wie er gemäß der Autorin in den Rahmenseiten reflektiert wird.
Erhellend sind die Vergleiche mit anderen westeuropäischen Manuskriptkulturen der Zeit, die das gesamte Buch durchziehen. Während sich andernorts der künstlerische Schmuck auf liturgische Handschriften konzentrierte - inklusive der Prachteinbände, die aus dem frühmittelalterlichen Spanien nicht überliefert sind -, zeichnen die aufwendigen Rahmenseiten hier mehrheitlich Manuskripte aus, die gemäß Böse der monastischen lectio dienten. Die größte Gruppe enthält Texte, die die Heilige Schrift kommentieren. Böse betont den Anteil der visuellen Gestaltung bzw. des Sehens an der lectio-Erfahrung. Sie zeigt auf, wie die oft mehrfach geschichteten Eröffnungsseiten die Lektüre der Texte vorbereiten, wie sie den Weg in den Codex strukturieren, indem sie Übergänge markieren und die sakrale Aufladung der Texte und des Codex anleiten. Der Wahrnehmung des Codex als heiliger Raum kommt besondere Bedeutung zu, wobei Böse inhaltliche Bezüge zwischen den Miniaturen und buchräumliche Operationen wie das Umblättern als sinnkonstituierend in die Überlegungen einschließt.
Böses ausgeprägtes Sensorium für wahrnehmungsästhetische Effekte ornamentaler Modi gewinnt insbesondere den gitterartig aus Buchstaben und ornamentalen Strukturen aufgebauten Buchstabenlabyrinthen, in die in verrätselter Form die Namen von Produzenten, Auftraggebern oder Besitzern der Handschriften eingetragen sind, innovative Sinndimensionen ab. Sie deutet die Labyrinthe als "kryptisch-ornamentale Meditationsfiguren" (36), die eine Reflektion über die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis sowie über den Codex als "Labyrinth göttlicher Wissensordnung" (118) anstoßen. Bedauernswert ist allein, dass ihre fruchtbaren Gedankengänge anhand der Abbildungen nicht immer leicht nachzuvollziehen sind, da viele in schwarz-weiß gehalten sind.
Mit genauem Blick für relationale Ordnungen im Layout der Seite analysiert Böse zudem, wie diagrammatische Modi eingesetzt werden, um vor allem in den Schlussseiten Beziehungen zu übergreifenden Räumen und Zeiten zu eröffnen. Dabei geht es zumeist um die welt- bzw. heilsgeschichtliche Einordnung des Herstellungsprozesses und der daran beteiligten Instanzen - beispielsweise, wenn ganzseitige Alpha- (zu Beginn) und Omegazeichen (am Ende), ergänzt um Namenseinträge oder Angaben zu Herstellungszeit und -ort, das Manuskript umfassen und so "in einer höheren göttlichen Ordnung verankern" (54).
Die visuellen Rahmungen lassen gemäß Böse darauf schließen, dass der Manuskriptkultur im Institutionalisierungsprozess der in den Grenzgebieten zu Al Andalus neu gegründeten Klöster eine wesentliche Rolle hinsichtlich der Stabilisierung und Vergewisserung der eigenen christlichen Identität zukam. Fest macht sie dies vor allem an der weitgehenden Orientierung der kanonischen, immer wiederkehrenden Rahmenminiaturen an christlichen Bildtraditionen, die mit einer reservierten Haltung gegenüber islamischen Motiven einhergeht, an der Fokussierung auf die monastische lectio und christliche Bildung und nicht zuletzt an den in keiner Manuskriptkultur der Zeit so zahlreichen Einträgen dokumentarischer Qualität. Buchräumlich äußert sich dies auch in der konsequenten Wendung der Kreuzzierseiten zum Inneren des Codex, der so gemäß Böse als göttlich beschirmter Raum umschrieben wird, der den dort eingetragenen Personen und Institutionen symbolisch Schutz gewährt und "der Verortung der monastischen Gemeinschaft in Welt- und Heilsgeschichte" (214) dient. Dem "mobile[n] Medium des Codex", so Böses These, kam eine kaum zu überschätzende "identifikatorische Rolle" (214) zu.
Böses Studie ist in vielerlei Hinsicht bereichernd. Mit ihrem Fokus auf die bislang vernachlässigten Rahmenseiten, die sie mit konzeptioneller Prägnanz analysiert, leistet die Autorin einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der frühmittelalterlichen christlichen Manuskriptkultur auf der Iberischen Halbinsel. Ihr Buch führt zudem einmal mehr vor Augen, welch' essentiellen Anteil gerade bildlich gestaltete paratextuelle Elemente an der symbolischen Aufladung des Schriftmediums Codex hatten und wie folglich deren Analyse Aufschluss über die mit dem Medium in einem bestimmten historischen Kontext verbundenen Konzepte und Erwartungen geben kann. Ihr Beitrag, der die visuellen Rahmengestaltungen im Hinblick auf das identitätsstiftende Potenzial des Codex untersucht, setzt somit auch und gerade aus mediengeschichtlicher Perspektive wichtige Impulse.
Anmerkungen:
[1] Siehe u.a. Bruno Reudenbach: Die Londoner Psalterkarte und ihre Rückseite. Ökumenekarten als Psalterillustration, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), 164-181; Stephan Müller / Lieselotte E. Saurma-Jeltsch / Peter Strohschneider (Hgg.): Codex und Raum (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; Bd. 21), Wiesbaden 2009; David Ganz: Buch-Gewänder. Prachteinbände im Mittelalter, Berlin 2015.
[2] Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. / New York 1989 [Französische Originalausgabe: Paris 1987]; Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, hg. von Peter Engelmann, Wien 1992 [Französische Originalausgabe: Paris 1978].
[3] Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1990 [Italienische Originalausgabe: Mailand 1962].
[4] Richard Kenneth Emmerson: Apocalypse Illuminated. The Visual Exegesis of Revelation in Medieval Illustrated Manuscripts, University Park / Pennsylvania 2018, 47-82.
Kristin Böse: Von den Rändern gedacht. Visuelle Rahmungsstrategien in Handschriften der Iberischen Halbinsel (= sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst; Bd. 8), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 424 S., 186 Abb., ISBN 978-3-412-50602-5, EUR 65,00
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