In letzter Zeit sind viele Überblickswerke zur Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus erschienen. Die jüngsten antisemitischen Demonstrationen anlässlich der Eskalation des palästinensisch-israelischen Konflikts machen die traurige Aktualität des Themas deutlich. Auch der emeritierte Frankfurter Pädagogik-Professor Micha Brumlik hat nun ein Werk vorgelegt. Als ehemaliger Direktor des Fritz Bauer Instituts, heutiger Senior Advisor des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und Autor zahlreicher Schriften, u. a. zur jüdischen Geschichte, ist er zweifellos einer der renommiertesten Experten. Doch Brumlik befasst sich mit der Thematik nicht nur wissenschaftlich, sondern auch biographisch. Als Sohn deutscher Juden, die im Nationalsozialismus in die Schweiz fliehen mussten, stellt der Antisemitismus für ihn eine ganz persönliche Bedrohung dar. Er war immer wieder mit judenfeindlichen Aussagen und seiner Herkunft konfrontiert, sei es in der Schulzeit oder durch linke Genossen während des Frankfurter Häuserkampfes in den 1970er Jahren. Diese persönlichen Erlebnisse wählt er als Einstieg in das Buch.
Danach definiert er die Judenfeindschaft als ein vielfältiges, in sich widersprüchliches Phänomen. Bei allen Differenzen eint die Antisemiten ein paranoider Leitgedanke: "Seine Anhänger sind - angesichts der objektiven Komplexität der Verhältnisse - von der Suche nach geheimen Drahtziehern im Hintergrund besessen; das Aufdecken einer (von der vermeintlich konformistischen Mehrheitsmeinung verdeckt gehaltenen) Ursache allen Übels ist ihre Leidenschaft" (6). Antisemiten neigten dazu, die Macht und den Einfluss der Juden zu überschätzen und schrieben ihnen projektiv ein Übermaß an sexueller Potenz und Intellektualität zu.
Brumlik bietet einen Überblick über die Genese der Judenfeindschaft von der Antike bis in die Gegenwart. In seiner sehr knappen Skizze schlussfolgert er, dass es in der heidnischen Antike keine verbreitete Judenfeindschaft gegeben habe. Die Niederschlagung der jüdischen Aufstände und die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. seien aus einem machtpolitischen Kalkül der Herrscher zu erklären, nicht aus einer spezifischen Abneigung gegen Juden.
Grundlegend geändert habe sich ihre Situation mit dem Übertritt des römischen Kaisers Konstantin zum Christentum im 4. Jahrhundert, das nach der konstantinischen Wende zur Staatsreligion erhoben wurde. Seitdem galten die Juden als Gottesmörder, die die Kreuzigung Jesu zu verantworten hätten. Zum Kronzeugen der christlichen Judenfeindschaft wurde Apostel Paulus. Jedoch sei das frühe Mittelalter von keiner starken Judenfeindschaft geprägt gewesen. Juden galten den Christen lange Zeit als verblendete ältere Brüder. Unter karolingischer Herrschaft ab dem 8. Jahrhundert erhielten sie sogar einige Privilegien, so dass sich in vielen Städten jüdische Gemeinden herausbildeten. Die Lage änderte sich allerdings mit der sozioökonomischen Krise im 11. Jahrhundert. Die Juden wurden damals zu "klassischen Sündenböcken" (27). Es bildeten sich die judenfeindlichen Topoi der Brunnenvergiftung und des Ritualmords heraus. Im Kontext der Kreuzzüge ab 1095 fanden viele judenfeindliche Pogrome statt. Das vierte Laterankonzil 1215 beschloss dann die äußerliche Kenntlichmachung der Juden und entsprechende Kleidungsvorschriften. Diese theologische Feindschaft erreichte mit der Reformation und den Schriften Martin Luthers ihren Höhepunkt, der nach anfänglich positiver Haltung gegenüber den Juden für ihre Vertreibung plädierte, wie sie im 15. Jahrhundert in Spanien erfolgte. Dort argumentierten die Judenfeinde nicht mehr nur theologisch, sondern nahmen auch auf die "Reinheit des Blutes" Bezug. Diese Referenz antizipierte spätere Entwicklungen.
Die im nächsten Kapitel behandelte Aufklärung habe sich durch eine ambivalente Haltung gegenüber Juden ausgezeichnet. Sie war durch scharfe Religionskritik, aber auch durch Toleranz geprägt. Im Zuge der französischen Revolution wurden die Juden emanzipiert, jedoch entstand zugleich als Widerstand dagegen der politische Judenhass. Deutlich wurde dieser Frühantisemitismus in den Werken von Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt oder Ernst Ludwig Jahn. Doch die Judenfeindschaft entlud sich seinerzeit in europaweiten Pogromen. Von Würzburg aus breiteten sich 1819 die sogenannten Hep-Hep-Krawalle in allen deutschen Ländern und darüber hinaus aus.
Im umfangreichsten Kapitel behandelt Brumlik die Genese des rassischen Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei benennt er drei Quellen: einen missverstandenen Liberalismus, die entstehende christliche Arbeiterbewegung und einen linken Radikalismus. Er legt dar, wie sich ehemalige Revolutionäre zu Antisemiten wandelten. Auch an Karl Marx lässt der Autor in dieser Hinsicht kein gutes Haar. Er sei zwar kein Antisemit der Tat, aber der Gesinnung gewesen. In den Werken bedeutender Frühsozialisten wie Joseph Proudhon und Charles Fourier fänden sich ebenso viele judenfeindliche Passagen. Sie hätten die Juden als Profiteure der kapitalistischen Gesellschaft gesehen und ihre Kritik vor allem auf die Finanzsphäre fokussiert.
Generell begreift Brumlik den modernen Antisemitismus als Reaktion "auf die krisenhafte Entwicklung der kapitalistischen Moderne" (66). Für die damit einhergehenden Verwerfungen würden die Juden verantwortlich gemacht, abstrakte Verhältnisse personalisiert. In letzter Konsequenz strebe der Antisemitismus danach, die personifizierten Ursachen des Übels zu beseitigen. Diese Ideologie habe im Nationalsozialismus und der Ermordung von sechs Millionen Juden ihren Höhepunkt erreicht.
Anschließend geht er auf die heutigen Formen des Antisemitismus ein. Die Judenfeindschaft sei nach der Niederlage des NS-Regimes nicht verschwunden, sondern habe sich gewandelt. Er sei zu einem sekundären oder Schuldverdrängungsantisemitismus geworden. Besonders verbreitet sei heutzutage aber neben dem Rechtspopulismus ein islamistischer Antisemitismus, dessen Wurzeln bei den Muslimbrüdern Brumlik diskutiert. Als Differenzierung zwischen legitimer Kritik an Israel und einem auf Israel bezogenen Antisemitismus schlägt er einen 3 D-Test vor: Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards. Wenn Israel also beispielsweise mit NS-Deutschland gleichgesetzt, ihm das Existenzrecht abgesprochen wird oder an den Staat höhere Standards als an andere Länder angelegt werden, dann sei die Grenze zum Ressentiment überschritten. Dennoch plädiert Brumlik mit Deborah Lipstadt für Gelassenheit im Umgang mit der BDS-Bewegung - eine Abkürzung, die für Boycott, Divestment, Sanctions steht.
Im abschließenden Kapitel über die Möglichkeiten, Antisemitismus entgegenzuwirken, regt er an, universalistische Bildung und ein differenziertes Bild über jüdische Geschichte und Religion zu vermitteln.
Brumliks Buch bietet keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse. Diesen Anspruch verfolgt es aber ohnehin nicht primär. Bisweilen ist die Schwerpunktsetzung nicht ganz nachvollziehbar, so etwa die Fokussierung auf den Antisemitismus bei Frühsozialisten. Auch Marx' Schrift "Zur Judenfrage" lässt sich anders interpretieren. Der Nationalsozialismus wird hingegen lediglich gestreift. Die Oberflächlichkeiten und Ungereimtheiten ergeben sich allerdings auch aus dem Reclam-Reihenformat "100 Seiten". Bei allen Monita bietet Brumlik eine gut lesbare Einführung für Personen, die sich erstmalig mit der Geschichte des Antisemitismus befassen. Dass er ein großes Publikum erreicht, dürfte dadurch gewährleistet sein, dass die Bundeszentrale für politische Bildung das Buch mittlerweile als Lizenzausgabe herausgegeben hat.
Micha Brumlik: Antisemitismus. 100 Seiten, Stuttgart: Reclam 2020, 100 S., ISBN 978-3-15-020533-4, EUR 10,00
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