Bekanntlich entwickelte sich seit dem Forschungsprojekt zum Auswärtigen Amt, das im Jahr 2005 seinen Anfang nahm, ein regelrechter Aufarbeitungs-Boom unter den Bundesministerien und -behörden. Für die beteiligten Wissenschaftler bedeutete dies neben der Forschungsarbeit stets auch eine Einbindung in die Außendarstellung der Ministerien und die Kommunikation der Ergebnisse an die Öffentlichkeit. Die Schwerpunktsetzung dieser Aspekte wurde dabei unterschiedlich gehandhabt. Das Forschungsprojekt zum Bundesjustizministerium, durchgeführt von dem Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker und dem Rechtswissenschaftler Christoph Safferling, damals in Marburg, stellt ein Beispiel für eine besonders ausgeprägte Vermittlung der Forschungsergebnisse an ein nichtwissenschaftliches Publikum dar und offenbart ein nicht nur historisches, sondern auch politisches Selbstverständnis. Wie die Autoren es selbst rückblickend ausführen, fand die Arbeit in der Kommission nämlich "nicht in der stillen Stube des Gelehrten" statt, "sondern beschritt von Anfang an den Weg der public history". [1] Diese Entscheidung führte dazu, dass die Forschung von zahlreichen öffentlichen Symposien und Workshops begleitet wurde. Entsprechend groß war das Medienecho, als 2016 "Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit" von Görtemaker und Safferling erschien. Eine Wanderausstellung "Die Rosenburg - Das Justizministerium im Schatten der NS-Vergangenheit", die 2017 eröffnet wurde und bis heute gezeigt wird, [2] unterstreicht den Fokus auf public history, und auch eine Buchreihe ergänzt die öffentliche und politische Kommunikation zur Rosenburg. Die Publikation "Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit. Bewertungen und Perspektiven", herausgegeben von Gerd J. Nettersheim und Doron Kiesel, ist als dritter Band dieser Reihe erschienen.
Der 2021 publizierte Sammelband basiert zum Teil auf der Konferenz "Die langen Schatten der Vergangenheit - Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit", die 2018 vom Zentralrat der Juden durchgeführt wurde. Die Autorenschaft besteht aus profilierten Historikern und Rechtswissenschaftlern, aber auch aus Praktikern im Bereich der Geschichtsvermittlung sowie Vertretern der Politik und der Justiz. So kommen neben den Autoren der "Rosenburg-Studie" der Historiker Frank Mecklenburg und der Rechtswissenschaftler Markus Heintzen, mit Stephan Harbarth und Bettina Limperg der Präsident und die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs, sowie mit Gerd J. Nettersheim und Hans-Jochen Vogel Zeitzeugen der Ministerialbürokratie zu Wort. Die enthaltenen Aufsätze sind divers, sowohl in Hinsicht auf Länge wie auch auf Sprache und Zielrichtung.
Der Sammelband ist in sechs Teile untergliedert. Teil I ist den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Aufarbeitung des BMJ gewidmet, darauf folgen drei Teile zum Thema "Verantwortung", nämlich der "Verantwortung der Bundesgerichtsbarkeit", der "Verantwortung des demokratischen Rechtsstaates" und der "Verantwortung der Juristen". Anhand dieser Kapitel lässt sich die heterogene Zusammensetzung des Bandes beispielhaft zeigen: Die dort diskutierte Verantwortung wird teils normativ betrachtet und eingefordert, wie etwa im Beitrag des Rechtswissenschaftlers und Politikers Edzard Schmidt-Jortzig. Er argumentiert auf Grundlage der Erkenntnisse des Rosenburg-Projekts für eine "bewusste Haltung zum Recht" bei Juristen und deren Förderung bereits in der Ausbildung (254?256). Der Aufsatz der Historikerin Kerstin Hoffmann über die Zentrale Stelle in Ludwigsburg fasst die Entwicklung gesellschaftlicher Perspektiven auf den Nationalsozialismus dagegen als kontingenten Prozess auf. Die Rechtswissenschaftlerin Lena Foljanty bringt beide Ebenen zusammen, indem sie zunächst pointiert die historische Diskussion um politische Bildung innerhalb der juristischen Ausbildung darstellt und sich dann konkreten Problemen und Lösungsmöglichkeiten zuwendet. Der V. Teil widmet sich der internationalen Rezeption des Forschungsprojekts und erweitert den diskursiven Rahmen um britische, amerikanische und israelische Perspektiven. Im VI. Teil schließt der Band mit drei Aufsätzen zu Fragen der "Erinnerungskultur" ab.
Die große Heterogenität des Bandes hat Vor- und Nachteile. Als Manko liegt das Fehlen eines analytischen roten Fadens auf der Hand. So ist weder eine gemeinsame Fragestellung vorangestellt, noch gibt es Kategorien oder Begriffe, die von allen Autoren einbezogen werden. Zudem entfernt sich der Band durch die programmatisch klingende Sprache einiger Beiträge von den Gewohnheiten einer wissenschaftlichen Leserschaft. Die Aussage von Daniel Botmann und Doron Kiesel im Vorwort etwa, beim "Rosenburg"-Projekt handle es sich um den "Kontrapunkt zum Schlussstrich-Gedanken, das Gegengift zu Antisemitismus und Rechtsextremismus und ein Werk der Aufklärung für alle Ewiggestrigen", (30) ist einer politischen Rede wesentlich näher als einer differenzierten Beurteilung. Die Verschiedenheit der Beiträge und der häufig nichtwissenschaftliche Duktus machen die Publikation jedoch gleichzeitig zu einem gut lesbaren Einstieg in die Forschung zum Bundesjustizministerium und darüber hinaus zur Behördenforschung generell. Zudem ist der Band eine Fundgrube für das Verständnis der Juristen am BMJ in einer historischen Perspektive. Gerade die anekdotenhaften Darstellungen seiner früheren Angehörigen bieten tiefe Einblicke in das Selbstbild derjenigen, die Dienst im Ministerium versahen.
Mit "Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit" legen die Herausgeber kein rechtshistorisches Kompendium vor. Stattdessen enthält die Publikation Beiträge, die ein weites Spektrum von politischen Bekenntnissen, persönlichen Erinnerungen und wissenschaftlicher Auseinandersetzung abdecken. Als Ergänzung zur "Rosenburg"-Studie oder Einblick für die breitere Öffentlichkeit bietet diese Publikation eine etwas disparate, gleichzeitig aber kurzweilige Lektüre, die selbst das Potential zur Quellensammlung hat. Im Ganzen spiegelt der Sammelband schließlich das Projekt selbst wider, das sich immer auch als einen Beitrag zur gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verstanden hat.
Anmerkungen:
[1] Manfred Görtemaker/Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, 15.
[2] Die Rosenburg - Das Bundesjustizministerium im Schatten der Vergangenheit, Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz; www.rosenburg.bmjv.de/WebS/RBP/DE/Home/home_node.html [18.01.2022].
Gerd J. Nettersheim / Doron Kiesel (Hgg.): Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit. Bewertungen und Perspektiven (= Die Rosenburg. Schriften zur Geschichte des BMJ und der Justiz in der frühen Bundesrepublik; Bd. 3), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 400 S., eine s/w-Abb., ISBN 978-3-525-35218-2, EUR 50,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.