Als die Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde im Januar 2022 den scheidenden Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann verabschiedete, verwies sie auf das wichtigste Erbe seiner Institution für die 1998 gegründete EZB: Das Ziel der Preisstabilität. [1] Angesichts der Debatten um geldpolitische Maßnahmen in der Corona-Pandemie und steigende Inflation, die in Deutschland kürzlich Höchstwerte seit 1993 erreichte, scheint dieser Grundsatz jedoch umstrittener denn je. Umso zeitiger kommt Clemens Krauss' Studie, die einen wichtigen Schritt bei der Entstehung der gemeinsamen Geldpolitik im Euroraum beleuchtet. Die Dissertationsschrift untersucht die Geld- und Kreditpolitik der Deutschen Bundesbank und der Banque de France in den 1970er Jahren.
In dieser "Scharnierzeit" (2), so die These, richteten beide Zentralbanken angesichts tiefgreifender wirtschafts- und währungspolitischer Umbrüche ihre Geldpolitik neu aus und entwickelten andere Orientierungsmaßstäbe sowie Handlungsstrategien. Dabei näherte sich die Banque de France dem deutschen Modell der Preisstabilität an. Die Banken prägten damit zugleich die internationalen Wirtschafts- und Währungsbeziehungen. Das Jahrzehnt und seine Krisenerscheinungen deutet Krauss als Vorgeschichte der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, die mit dem Delors-Bericht 1989 Form annahm. Die intellektuelle Annäherung beider Zentralbanken in den 1970ern legte demnach das Fundament für die gemeinsame Geld- und Währungspolitik in der Währungsunion.
Drei große Umbrüche bilden den Rahmen: Der Zerfall des Bretton Woods-Systems ab den späten 1960er Jahren, die Ölpreiskrise 1973/1974 und die Entstehung des Europäischen Währungssystems 1978/1979. An diesen Beispielen analysieren drei Hauptkapitel die Entscheidungsprozesse und Reaktionen der Banken sowie die Rückwirkungen auf die Institute selbst. Mit der Methodik des historischen Vergleiches und der Verflechtungsgeschichte werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Interdependenzen herausgearbeitet. Die Quellenbasis bilden umfangreiche Dokumente aus den Archiven von Bundesbank und Banque de France, angereichert durch archivalische Überlieferungen von EZB, nationalen Regierungen und einzelnen Akteuren.
Zunächst zeigt ein einführendes Kapitel, wie sich institutionelle Struktur und Geldpolitik der Banken aus den jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Nachkriegsbedingungen entwickelten. Die politische Unabhängigkeit der Bundesbank - von den Alliierten gegen deutsche Widerstände durchgesetzt - und das Ziel der Preisstabilität wurden zentrale Elemente der westdeutschen Marktwirtschaft. Hingegen wurde die Banque de France für Wiederaufbau-, Wachstums und Produktionsförderung voll in die Wirtschaftspolitik eingebunden. Das Ende des Nachkriegsbooms mit seinen Krisen gab dann Impulse für eine Neuausrichtung, die in den 1970er Jahren begann.
Wie unterschiedlich beide Banken auf die Krisen des Bretton-Woods-Systems reagierten, zeigt das zweite Kapitel. Ursächlich waren divergierende Stabilitätskonzepte: Die Bundesbank priorisierte interne Preisstabilität, die Banque de France Wechselkursstabilität. In der Bundesbank führte das 1973 zu einem geldpolitischen "Breaking Point" (358): Das System fester Wechselkurse wurde aufgegeben, um das Dilemma von externen und internen Anforderungen zu lösen. In der Banque fand kein vergleichbarer Paradigmenwechsel statt. Sie wandte sich - vor allem als Gegengewicht zur US-amerikanischen Dollarpolitik - einer engeren europäischen Währungszusammenarbeit zu, um Wechselkursstabilität im neuen Rahmen fortzuführen. In dieser Lesart war der Zerfall des Systems nicht nur exogene Variable, sondern auch das Ergebnis bewusster Zentralbankentscheidungen.
Das dritte Kapitel zur Ölpreiskrise 1973/74 zeigt, wie die Bundesbank 1974 ihre Politik mit Geldmengenzielen untermauerte und durch ihre Stabilitätserfolge Interpretationshoheit erlangte. Die Banque de France hingegen erlebte einen Anpassungsschock. Der Konflikt zwischen den gegensätzlichen Zielsetzungen von Preisstabilität einer- und Konjunkturförderung andererseits wurde voll wirksam, ohne dass er aufgelöst werden konnte.
Den Schwerpunkt bildet das vierte Kapitel zur europäischen Währungspolitik ab 1970. In dieser "Inkubationszeit" (209) der Währungsunion entstanden "signifikante Gemeinsamkeiten" (210) in der Geldpolitik. Beim Werner-Plan 1970 standen sich französischer Monetarismus [2], der die Währungsintegration als Ausgangspunkt wirtschaftlicher Konvergenz deutete, und deutscher Ökonomismus, der eine umgekehrte Reihenfolge befürwortete, noch gegenüber. Die französischen Schwierigkeiten im Festkurssystem der Europäischen Währungsschlange von 1972, die in wiederholten Austritten mündeten, leiteten ab 1974 eine "geldpolitische Wende" (289) in der Banque ein, die die Inflationsbekämpfung zum primären Ziel machte. Diese von internen Debatten begleitete Neuausrichtung nach deutschem Modell wurde zur wesentlichen Grundlage für die Gründung des EWS 1978/79 und später die Währungsunion.
Überzeugend wird argumentiert, dass divergierende Konzepte von Stabilität zentral für die Dynamik der Geld- und Währungspolitik beider Zentralbanken waren, wenngleich rechtlich-institutionelle Voraussetzungen und wirtschaftliche Fundamentaldaten den Spielraum begrenzten. Interessant ist diese Feststellung besonders deswegen, weil die geldpolitischen Konzepte nicht als unveränderliche "deutsche" oder "französische" Grundeigenschaften gedeutet werden, sondern als Ergebnis von Aushandlungsprozessen angesichts interner und internationaler Herausforderungen. Damit liefert die Studie eine wichtige Differenzierung der eher statischen nationalen Zuschreibungen, die die Debatten um die Eurokrise so stark prägten.
Eine explizitere Auseinandersetzung mit Forschungen, die die Bedeutung von intellektuellen Konzepten und Währungskulturen für die Entwicklung der Europäischen Währungsunion untersuchen, [3] hätte diesen Fokus stellenweise noch schärfen können. In diesem Sinne wäre es auch interessant gewesen, mehr darüber zu erfahren, inwieweit Ausbildung und intellektueller Hintergrund der handelnden Akteure beispielsweise bei der Etablierung des neuen Instruments der Geldmengenziele eine Rolle spielten. So wird etwa der Name Milton Friedmans, einer der wissenschaftlichen Vordenker des zugrundeliegenden monetaristischen Modells, nur einmal genannt. Die Frage, ob solche wissenschaftlichen Modelle explizit diskutiert wurden oder inwieweit sie - zumindest implizit - in den Entscheidungsprozessen wirkten, hätte die intellektuelle und wissenschaftliche Rückbindung der Zentralbankpolitik noch weiter beleuchten können. Auch dabei hätte neben dem vorhandenen Personenregister ein Sachverzeichnis der schnelleren inhaltlichen Erschließung dienen können.
Diese kleineren Einwände können jedoch das enorme Verdienst dieser quellengesättigten Studie nicht schmälern, die eine technische und zugleich hochaktuelle Thematik fundiert, gut lesbar und anschlussfähig präsentiert. Besonders für den deutsche Raum ergänzt sie die bisherige Forschung um eine genuin historische Perspektive, die die Schnittstelle von Wirtschaft und Politik beleuchtet. Mit der konsequenten Einordnung der nationalen Zentralbankpolitik in den europäischen und internationalen Kontext ist sie nicht nur für die deutsche und französische Wirtschafts- und Politikgeschichte eine wichtige Bereicherung, sondern auch für die internationale und europäische Integrationsgeschichte.
Anmerkungen:
[1] Rede von Christine Lagarde anlässlich einer virtuellen Feier zum Amtswechsel des Bundesbankpräsidenten, https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2022/html/ecb.sp220111~1778c4939d.de.html (20.11.2022)
[2] Nicht zu verwechseln mit dem Monetarismus, der sich auf die Theorien von Milton Friedman bezieht und eine Geldmengenkontrolle zur Inflationsbekämpfung setzt.
[3] Beispielsweise für die Entstehung der Währungsunion: Kathleen McNamara: The Currency of Ideas. Monetary Politics in the European Union (Cornell Studies in Political Economy), Ithaka, NY 1999; zur Eurokrise: Markus Brunnermeier / Harold James / Jean-Pierre Landau: The Euro and the Battle of Ideas, Princeton / Oxford 2016.
Clemens Krauss: Geldpolitik im Umbruch. Die Zentralbanken Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 128), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021, 392 S., ISBN 978-3-11-072828-6, EUR 59,95
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