Anja Tack baut ihre kulturhistorische Studie um den Kunsteklat des Jahres 1990 auf - um die Reaktionen auf das berühmt-berüchtigte Interview, das der Maler Georg Baselitz der Zeitschrift "art" gab und in dem er das Urteil fällte, "es gibt keine Künstler in der DDR, alle sind weggegangen [...] Keiner von denen hat je ein Bild gemalt" [1]. In ihrer umfangreichen empirischen Untersuchung zur öffentlichen Rede über Kunst aus der DDR im Jahr 1990 greift Tack weit in die Vorgeschichte des daraufhin ausbrechenden "deutsch-deutschen Bilderstreits" zurück, schildert die Polarisierungen des Kunstdiskurses im Kalten Krieg, umkreist den engeren Kontext der Umbruchsmonate 1989/90 und stellt die Frage, warum es möglich war, dass das nicht unbedingt neue Verdikt Baselitz' nun plötzlich gesellschaftliche "Sprengkraft" und "Resonanzboden" (130) erhielt. Mit großer Akribie verfolgt Tack auf einer beeindruckenden Materialbasis die umstrittene mediale Repräsentation der DDR-Kunst und argumentiert, dass von der gesamtdeutschen Vereinigungsgesellschaft dabei "Begriffe und Werte verhandelt wurden, die das Feld der Kunst weit überragten" (373). Im Kern geht es dabei um die Frage der Legitimität - die Frage, "wer sich aus welchen Gründen am Diskurs beteiligen konnte und welche Stimmen kaum zu vernehmen waren" (227).
Tacks historische Diskursanalyse zur Kunstdebatte des Jahres 1990 deckt ein großes Feld ab und bezieht sich nicht nur auf die von ihr vollständig ausgewerteten Fachzeitschriften "art", "Bildende Kunst", "PAN" und "KUNSTFORUM international", sondern auch auf überregionale Tages- und Wochenzeitungen. Grundlage der Untersuchung bildet das "Archiv der DDR-Kunst" der Universität Hamburg mit seiner Pressedokumentation ab den 1970er Jahren, dazu kommen digitale Zeitungsdatenbanken, Pressedokumentationen in Museumsarchiven, Ausstellungskataloge und Presseschauen. Punktuell werden ergänzend Archivquellen herangezogen. Besonders sticht Tacks gelungene Einflechtung der Ergebnisse ihrer "regionalhistorischen Tiefenbohrung" (18) zum Potsdamer Verband der Bildenden Künstler in die allgemeine Betrachtung hervor. Demgegenüber wirkt ein etwa 100-seitiger "Exkurs" zur polnischen Kunstrezeption, der nach Bildanhang und Resümee gegeben wird und durch kein zusammenfassendes Kapitel am Ende der Publikation in die vorherige Untersuchung integriert ist, wie eine eigenständige Abhandlung.
Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit ost- und westdeutschen Perspektiven auf DDR-Kunst zur Zeit des Kalten Krieges, mit Verhalten und Positionen ostdeutscher Künstler im Vereinigungsprozess sowie mit westdeutschen Reaktionen darauf. Tacks Darstellung kann immer wieder neue Impulse aus der Verwunderung über die plötzliche Heftigkeit von Konflikten ziehen, die im Grunde schon lange vor 1989 bestanden. 1990 trafen diese Konfliktlinien aufeinander und verstärkten sich wechselseitig. Auf ostdeutscher Seite war dies insbesondere die "Zerrissenheit" der ostdeutschen Künstlerschaft (301) - in solche, die von den intransparenten und mäzenatischen Förderprinzipien der DDR für Künstler, besonders im Auftragswesen, profitiert hatten, und solche, die ausgeschlossen geblieben waren. "Zerrissen" waren die Künstler auch mit Blick auf die Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus, die all diejenigen von den repräsentativen nationalen und internationalen Räumen fernhielt, die sich nichtfigürlicher abstrakter oder performativer Kunst zugewandt hatten. Jahrelang aufgestaute Wut und Erbitterung über diese "Verschwiegene Kunst" [2] brachen sich 1990 Bahn, als deutlich wurde, dass auch der gesamtdeutsche Kunstmarkt an dieser Situation nur für die wenigsten etwas ändern würde.
Der titelgebende "Riss im Bild" konnte entgegen vieler Erwartungen 1990 und in den Jahren danach nicht "wiedergutgemacht" (203) werden. Auf westdeutscher Seite war besonders folgenreich, dass die dem Sozialistischen Realismus nahestehende "Leipziger Schule" aufgrund der SED-Kunstpolitik und des Engagements westdeutscher Sammler und Galeristen zum "Inbegriff der 'DDR-Kunst'" (231) geworden war. Dieses alles dominierende "Trugbild" (233) schlug 1990 in der öffentlichen Wahrnehmung in das Bild vom korrumpierten "Staatskünstler" um, legte sich als Schatten auf nahezu jeden DDR-Künstler und minderte "die Bereitschaft, die Kunst aus der DDR nicht als Ausdruck ihrer politischen Indienstnahme zu betrachten und ihr einen Kunstwert zuzugestehen" (335).
Vor allem die Bildende Kunst wurde zur "Projektionsfläche für Auseinandersetzungen, die den gesamten gesellschaftlichen Prozess der Vereinigung betrafen" (14). Dass im Zuge des Konflikts ostdeutsche Positionen an Legitimität und Glaubwürdigkeit verloren, lag auch an den heftigen Protesten und oft polemischen Angriffen ostdeutscher Künstler und Künstlervereinigungen auf das westdeutsche Kunstsystem. Ihre teils vehementen Forderungen nach einer staatlichen Schutzpflicht und zugleich "ein sprachloser bzw. reflexionsarmer Umgang mit der eigenen Vergangenheit" (375) wurden den ostdeutschen Akteuren als mangelnde Demokratietauglichkeit ausgelegt. Die Zerrbilder des dem Kunstmarkt willenlos unterworfenen Westkünstlers und des ostdeutschen "Staatskünstlers" trafen hier wirkungsvoll aufeinander.
Besonders an dieser Stelle ihrer Überlegungen gelingt es Tack, das Ergebnis ihrer Diskursanalyse einzuarbeiten, dass die Unterscheidung in ost- und westdeutsche "Sprecherkonstellationen" nur als brüchiges "Hilfskonstrukt" (219) gelten kann, das oft fehlgeht. Tatsächlich wird dieses Fehlgehen von ihr so häufig geschildert, dass sich die Frage stellt, ob eine "deutsch-deutsche Dichotomie" (22) als Analysekategorie überhaupt produktiv sein kann. Wenn Tack etwa darauf hinweist, dass auch in Westdeutschland bereits vor 1989 Kritik an der Dominanz wirtschaftlicher Denk- und Sprechweisen im Kunstsystem laut geworden war, ist es möglich zu konstatieren: "Vor diesem Hintergrund lief die ostdeutsche Kritik am Kunstmarktgebaren nicht ins Leere, sondern fiel ganz im Gegenteil auf fruchtbaren Boden" (258). So kann Tack für den Kunstdiskurs immer wieder zeigen, dass sich 1990 vielmehr quer durch Deutschland in Ost und in West jeweils eine "dominante, stärkere Position restaurativer Argumente" gegenüber Veränderungswünschen jenseits der Ost-West-Dichotomie durchsetzte (229).
Tacks Arbeit trägt dazu bei, die Lücke der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur DDR-Kunst im Transformationsprozess zu schließen. Da sie ausdrücklich eine Analyse des Sprechens über Kunst anstrebt, ist es zwar verständlich, dass sie dabei nur selten und wenn, dann nur knapp auf die umstrittenen Kunstwerke selbst eingeht. Dennoch wäre zu fragen, ob nicht wichtige Erkenntnispotentiale in der Untersuchung vernachlässigt bleiben, wenn als Stimme im Diskurs nicht auch die eigenständige und vieldeutige Aussagekraft der Kunst selbst mit einbezogen wird. Die Debatten und Zerwürfnisse des Jahres 1990 schildert Tack in angemessener Distanz - "die wohl schwierigste Herausforderung", wie sie eingangs zugesteht (23). Anja Tack ist eine ausgewogene, spannend zu lesende Darstellung mit einer Fülle von Rückgriffen und Querverweisen gelungen, die in einem von subjektiven Erinnerungen beherrschten Feld empirische Fundierung und sachliche Orientierung bietet.
Anmerkungen:
[1] Alex Hecht / Alfred Welti: Ein Meister, der Talent verschmäht, in: ART - Das Kunstmagazin 6 (1990), 54-72, pdf veröffentlicht in: Kunst in der DDR; https://www.bildatlas-ddr-kunst.de/knowledge/60 [1.3.2022].
[2] So der Titel von Felice Fey: Verschwiegene Kunst. Die internationale Moderne in der DDR, Berlin / München 2021.
Anja Tack: Riss im Bild. Kunst und Künstler aus der DDR und die deutsche Vereinigung (= Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte; Bd. 8), Göttingen: Wallstein 2021, 541 S., 25 Farbabb., ISBN 978-3-8353-3910-1, EUR 54,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.