Die Forschungsergebnisse zum Werk kanonischer Geistesgrößen zu überschauen, ist naturgemäß eine schwierige Angelegenheit. Lückenhafte Quellenlage, verschiedene Auslegungen, daraus resultierende akademische Streitereien und Schulbildungen oder auch politische Inanspruchnahmen sind einige typische Fallstricke für eine sachlich angemessene wie möglichst umfassende Einschätzung der bisherigen Forschungslage und ihrer Desiderate. Dass es sich auch beim Fall Leibniz so verhält, liegt auf der Hand. Angesichts einer Gesamtausgabe seiner Schriften, bei der es "noch mehrere Jahrzehnte dauern" werde, "bis sie vollendet sein wird" (30), dem enorm breitgefächerten Themenspektrum des Universalgelehrten und der wechselhaften Aneignungsgeschichte als "Identitätsfigur" (791) trifft es auf ihn sogar in einem besonderen Maß zu. Es ist daher ein nicht nur begrüßenswertes, sondern vor allem ambitioniertes Unterfangen, wenn die 300 Jahre bisheriger Leibniz-Forschung in einem Handbuch kompakt zugänglich gemacht werden.
In Angriff genommen haben es Friedrich Beiderbeck, Wenchao Li und Stephan Waldhoff von der Arbeitsstelle Potsdam der Leibniz-Edition. Wie Li im Vorwort erklärt, entstand die Idee dazu an der Leibniz-Stiftungsprofessur in Hannover anlässlich des 300. Todestags von Leibniz. Es sollte "zum ersten Mal der Versuch unternommen werden, rückblickend die Quellenlage in Augenschein zu nehmen, die bisherigen Forschungsansätze einzuordnen, Desiderate zu benennen und Ausschau auf das noch zu Erwartende zu halten" (17). Die Autor:innen, die für diesen Versuch gewonnen werden konnten, hatten sich mehrmals getroffen, um die Durchführung des Vorhabens zu diskutieren, und halten sich trotz der teilweise sehr verschiedenen Akzentsetzungen in ihren Beiträgen weitgehend an die ihnen gestellte Aufgabe, Quellenlage, Forschungsansätze und Ausblick für das jeweilige Themenfeld anzugeben. So umfasst das reichlich 800-seitige Handbuch 18 Beiträge mit ausführlichen Bibliografien zum jeweiligen Thema, die zusammen ein beeindruckendes Bild von Leibniz' vielfältigem Werk wie auch von dessen Rezeption zeichnen.
Grob gegliedert ist der Band in vier größere Teile, deren Überschriften die Einzelüberschriften der Beiträge, also die jeweils behandelten Themenbereiche, nennen: "Fürstenhof - Gelehrtenrepublik - Akademie - Bibliothekswesen" (167-270), "Jurisprudenz - Politik - Geschichte - Sprachwissenschaft - Dichtung" (271-426), "Erkenntnistheorie - Monadentheorie und Monadologie - Logik - Theologie" (427-638) und "Mathematik - Dynamik, Physik, Experiment - Lebenswissenschaften - Bergbau und Geologie" (639-787). Vorangestellt ist ein umfangreicher (und insgesamt: der umfangreichste) Beitrag von Stephan Waldhoff mit der Überschrift "Quellenkunde" (30-165), der trotz der Fülle des Materials gut handhabbar über alle bisher bekannten Quellen (publizierte Schriften, Nachlass, Überlieferungen aus amtlichen Tätigkeiten sowie durch Korrespondenzpartner) und die verschiedenen Editionen bis hin zum Stand der Akademie-Ausgabe informiert. Tatsächlich dürfte dieser Text damit zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel für alle Leibnizforscher:innen avancieren. Den vier genannten großen Abschnitten nachgestellt ist wiederum ein Beitrag von Wenchao Li mit dem Titel "Der Wandel des Leibniz-Bildes" (791-815), der in wenigen, aber pointierten Zügen die Vereinnahmung von Leibniz als "zeitgemäße kulturelle und nationale Identitätsfigur" (791) seit dessen Tod in Deutschland skizziert. Von erster Trauer und beginnendem Zusammentragen der Leibnitiana durch die Gelehrtenrepublik, über die zunehmende Beanspruchung als Sachse oder Hannoveraner und als ("echter") Deutscher, bis hin zur Stilisierung zum "Friedensapostel" (Hermann Diels) und schließlich zum "deutschen Europäer" (Wilhelm Weischedel) stellt Lis Text eine Perspektive auf Leibniz vor, die selten thematisiert wird, allerdings einen wesentlichen Aspekt der Rezeption von allen Geistesgrößen bzw. deren Werk in den Blick nimmt.
Die Beiträge der vier Abschnitte sind thematisch ausgerichtet und adressieren vorrangig Vertreter:innen der jeweiligen Fächer. Besonders umfangreich und in den Ausführungen detailliert sind der Beitrag zur Theologie von Ulrich Becker, Hartmut Rudolph und Klaus Unterburger (549-638) und der zu "Dynamik, Physik, Experiment" von Hartmut Hecht (666-762). Mit Blick auf die Theologie ist das vor allem der unterschiedlichen Rezeption in der protestantischen und der katholischen Theologie geschuldet, die entsprechend in zwei eigenständigen Teilen ausführlich dargestellt wird. Der Beitrag zur Physik geht indessen vergleichsweise detailliert auf Rezeptionsverläufe und neuere Forschungsperspektiven ein, was es fachfremden Leser:innen vielleicht an einigen Stellen schwer machen dürfte, bei all der Informationsfülle den Überblick zu behalten. Auch die kürzeren Beiträge richten sich in ihrer kompakten Darstellungsweise und der systematischen Vorstellung der jeweiligen Forschungsergebnisse und -perspektiven sichtlich an das jeweilige Fachpublikum, so die Beiträge zur Akademie von Stefan Luckscheiter (213-254), zum Bibliothekswesen von Margherita Palumbo (256-270), zur Jurisprudenz von Matthias Armgardt (273-283), zur Logik von Volker Peckhaus (537-548), zur Mathematik von Eberhard Knobloch (641-664), zu den Lebenswissenschaften von Justin E. H. Smith (764-776) und zu "Bergbau und Geologie" von Friedrich-Wilhelm Wellmer und Jürgen Gottschalk (777-787).
Dagegen halten die restlichen Beiträge eher eine Balance zwischen Informationen für an Leibniz interessierte Fachvertreter:innen und Handreichungen für an Leibniz Interessierte oder mit ihm bereits Vertraute aus anderen Disziplinen. So bieten etwa die Beiträge zu "Fürstenhof und Gelehrtenrepublik" von Nora Gädeke (169-211) oder zur Erkenntnistheorie von Stephan Meier-Oeser (429-495) nicht nur Rezeptionsgeschichtliches und Angaben zum Forschungsstand, sondern auch grundsätzliche Überlegungen zur jeweiligen Thematik und vor allem über einen angemessen Zugang zu dieser: im einen Fall durch die Fokussierung auf den "Antagonismus" (171) von Hofdienst und Wirken in der république des lettres, im anderen Fall durch eine genaue Bestimmung von Bedeutung und Stellung einer "Erkenntnistheorie" in Leibniz' Philosophie und in deren Abgrenzung zu den "prominenten 'Novatores' der Philosophie des 17. Jahrhunderts" (436). Ähnliches gilt für die übrigen Beiträge zur Politik von Friedrich Beiderbeck (285-341), zur Geschichte von Gerd van den Heuvel (344-362), zur Sprachwissenschaft von Christina Marras (363-402), zur Dichtung von Annette Antoine (403-426) und zur "Monadentheorie und Monadologie" von Hanns-Peter Neumann (497-536).
In Anlage und Durchführung erfüllt der Band ohne Zweifel die ihm zugrunde liegende Aufgabe, über 300 Jahre Leibniz-Forschung zu informieren und dabei über die einzelnen Forschungsbereiche auch Bilanz zu ziehen. Lediglich das Lektorat hätte sorgfältiger ausfallen können, da über den gesamten Text verstreut immer wieder Satzfehler auftauchen (das beginnt schon im Inhaltsverzeichnis, wo der Name von Christina Marras und auch der von Klaus Unterburger nicht korrekt wiedergegeben werden). Dieser kleine Makel ließe sich bei Gelegenheit einer zweiten Auflage einfach beheben. Eine solche dem Handbuch zu wünschen, erscheint mir angesichts seines nicht zu überschätzenden Nutzens überflüssig. Vielmehr bin ich von deren Erscheinen jetzt schon überzeugt.
Friedrich Beiderbeck / Wenchao Li / Stephan Waldhoff (Hgg.): Gottfried Wilhelm Leibniz. Rezeption, Forschung, Ausblick, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 837 S., 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-11962-7, EUR 96,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.