Forschungen zu Museen boomen. Insbesondere seit den 1980er-Jahren entstand eine Fülle von Studien, die sich mit den verschiedenen Facetten der Institution "Museum" und ihrer einzelnen Typen auseinandersetzten. So vielfältig die analysierten Institutionen sind, so unterschiedlich sind auch die methodischen und theoretischen Zugänge zu diesem Forschungsfeld. Auch zum "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" liegen bereits wissenschaftliche Untersuchungen vor; von der Institution selbst wurde schon vor der Eröffnung der ersten Dauerausstellung Besucherforschung betrieben. [1] An diese Tradition schließt die Studie von Julia Schuppe an, die im Bereich der Wirkungs- bzw. Besucherforschung verortet ist, [2] wiewohl in der umfangreichen Literaturrezeption zu Beginn der Publikation auch auf Theorien der Gedächtnisforschung und geschichtsdidaktische Ansätze Bezug genommen wird. Untersucht wurde, inwiefern ein "generationsspezifisches Selektions- und Rezeptionsverhalten" festgestellt werden kann und sich "Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse" (17f.) bei Besucherinnen und Besuchern unterscheiden.
Die Studie basiert auf Leitfadeninterviews (n = 132), die mit Besucherinnen und Besuchern unterschiedlichen Alters nach einem Besuch der Dauerausstellung "Unsere Geschichte. Deutschland seit 1945" im "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" in Bonn geführt und mithilfe einer Qualitativen Inhaltsanalyse (unter Berücksichtigung von Auswertungsstrategien der Grounded Theory) ausgewertet wurden (158-164). Die Unterscheidung von sechs Generationen erfolgt - unter Bezugnahme auf einen Vorschlag von Aleida Assmann - im Wesentlichen auf der Basis welt- und deutschlandpolitischer Zäsuren, wie dem "Mauerfall" (43-51). Die Autorin problematisiert dieses Einteilungsschema zwar (51f.), reagiert im empirischen Teil jedoch nicht darauf. Hier wurde eine Chance vergeben, die Befragten nach historischen Ereignissen oder Prozessen zu fragen, die sie als prägend für ihre Altersgruppe empfinden, und auf dieser Datengrundlage die vorgenommene Einteilung zu bestätigen oder zu revidieren. Auch weitere statistische Daten wären für die Interpretation wertvoll gewesen, insbesondere die Dauer des Ausstellungsbesuches.
Im umfangreichen Analyseteil - dessen Binnenstruktur allerdings nicht leicht verständlich ist - zeigt sich schließlich deutlich, "wie unterschiedlich und teilweise konträr das Empfinden der Besucher ist und welche Bandbreite an Rezeptionsmöglichkeiten es geben kann". (203) Dennoch konnten generationsspezifische Trends abgeleitet werden. So sind jüngere Besucherinnen und Besucher eher der Auffassung, dass sie in der Ausstellung etwas lernen können, während sich Ältere eher auf ihre Zeitzeugenschaft verlassen. Neben eigenen Erinnerungen stellte sich das Familiengedächtnis als wirkmächtiger Einflussfaktor der Ausstellungswahrnehmung heraus (339f.). Als weiterer zentraler Unterschied in der Ausstellungsrezeption zwischen den Generationen konnte herausgearbeitet werden, dass Objekte und Ausstellungsthemen von älteren Besucherinnen und Besuchern stärker mit Emotionen verbunden werden; damit im Zusammenhang ist zu sehen, dass sie eher als Jüngere mit einzelnen Objekten individuelle Erinnerungen verbinden und nicht nur große, stark inszenierte Exponate genannt werden (232). Somit wird das Museum von Jüngeren eher als Lern-, von Älteren eher als Erlebnisort wahrgenommen.
Schuppe leitet im Fazit ab, dass sich (zeitgeschichtliche) Museen der generationenspezifischen Einflüsse auf die Wahrnehmung von Ausstellungen bewusst werden sollten (358). Die Studie ist aber nicht nur für die Entwicklung etwaiger generationsspezifischer Vermittlungsangebote relevant. Besonders wertvoll für weitere Forschungen zu Ausstellungsbesuchen ist der Vergleich des methodischen Vorgehens mittels Leitfadeninterviews im Anschluss an eine Ausstellung im Vergleich zu Erhebungen mittels Lautem Denken, die Grundlage der Studie von Julia Thyroff waren. So konnte Schuppe mit ihrer Methode nachweisen, dass sich Besucherinnen und Besucher im Nachgang zu einem Ausstellungsbesuch an deren Narration erinnern - und zwar stärker als an einzelne Objekte (342), während die Untersuchung von Thyroff zeigte, dass "Erzähllinien und thematische Querverbindungen über den Besuchsverlauf hinweg [...] eher die Ausnahme als die Regel" [3] sind. Die Ergebnisse sind nicht als Widerspruch zu sehen, sondern als Auftrag bei künftigen Projekten mehrere methodische Zugänge im Sinne einer Triangulation [4] zu kombinieren, um das untersuchte Feld umfassender erfassen zu können.
Anmerkungen:
[1] Hermann Schäfer: Besucherforschung als Basis für neue Wege der Besucherorientierung, in: Event zieht - Inhalt bindet. Besucherorientierung von Museen auf neuen Wegen, hgg. von Beatrix Commandeur / Dorothee Dennert, Bielefeld 2004, 103-119.
[2] Nora Wegner: Besucherforschung und Evaluation in Museen: Forschungsstand, Befunde und Perspektiven, in: Das Kulturpublikum. Fragestellungen und Befunde der empirischen Forschung, hgg. von Patrick Glogner-Pilz / Patrick S. Föhl, Wiesbaden 2011, 127-181.
[3] Julia Thyroff: Facetten des Denkens im Museum. Aneignungsweisen von Besuchenden der Ausstellung "14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg", in: Didactica Historica 3 (2017), 111-117, hier 116.
[4] Vgl. u. a. Jutta Ecarius /Ingrid Miethe (Hgg.): Methodentriangulation in der qualitativen Bildungsforschung, Opladen / Berlin / Toronto 22018.
Julia Schuppe: Museumsbesucher und Zeitgeschichte. "Das war doch alles ganz anders" oder "Genauso war's"? Eine Studie zu generationenspezifischen Wahrnehmungen, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2020, 400 S., ebook, ISBN 978-3-7344-1102-1, EUR 34,99
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