Kann man über einen Menschen, der gerade einmal 23 Jahre alt geworden ist, allenfalls eine regionale Bekanntheit gehabt hat und nur noch für enge Forschungsgebiete von Interesse ist, eine über 400-seitige Biographie schreiben? Und lohnt sich der Aufwand? Beides wird man nach der Lektüre des Buches von Natalja Jeske, die mehrfach mit Untersuchungen beziehungsweise Dokumentationen zu den Opfern nationalsozialistischer und stalinistischer Gewaltherrschaft hervorgetreten ist, klar bejahen können. Mit Arno Esch (1928-1951) hat sie einen jungen Liberal(demokrat)en zum Thema erkoren, der vor allem durch sein tragisches Ende in Erinnerung geblieben ist: Im Sommer 1951 wurde er in einem Moskauer Gefängnis hingerichtet.
Jeskes zentrales Anliegen ist, "vor allem Esch selbst zu Wort kommen (zu) lassen" (16). Dazu hat sie ungemein umfassend und in wirklich beeindruckender Weise Quellen staatlicher und privater Natur von und über ihn ausfindig gemacht, darunter solche der Sowjetischen Militäradministration und des Ministeriums für Staatssicherheit sowie des Archivs des Liberalismus. Besonders bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass die ursprünglich aus Tomsk stammende Autorin auch russische Akten problemlos auswerten konnte, sondern auch zahlreiche private Archivalien von Verwandten ausfindig gemacht hat, so etwa den offenbar ergiebigen Nachlass der Mutter.
Überhaupt ist das, was hier über den familiären Hintergrund des späteren Jugendpolitikers dargelegt wird, bis dahin weitgehend unbekannt gewesen. Natalja Jeske hat Verwandte und Freunde befragt und sogar Eschs Geburtsstadt Memel aufgesucht, in der dieser eine eigentlich nur durch die Entfremdung der Eltern etwas eingetrübte Jugend verbrachte, bis sich auch dort der Zweite Weltkrieg auswirkte. Dessen Ende erlebte der zum Kriegshilfsdienst eingezogene Oberschüler in Vorpommern beziehungsweise Mecklenburg.
Die Biographie ist chronologisch angelegt: Kindheit und Jugend, "Neuanfang" in Mecklenburg, das Engagement in der Liberaldemokratischen Partei und schließlich Verhaftung und Prozess. Davon macht der dritte Teil, der in etwa die Zeit vom Frühjahr 1947 bis unmittelbar nach der DDR-Gründung abdeckt, rund die Hälfte des Gesamtumfanges aus. Hier werden auch zahlreiche "Ego-Dokumente" herangezogen, da Esch als aufsteigender Jugend- und Hochschulpolitiker der mecklenburgischen LDP in dieser Zeit zahlreiche Ansprachen hielt, oft protokollierte Statements abgab und auch häufig Beiträge für die Parteipublizistik verfasste, den letzten wenige Tage vor seiner Verhaftung. Eine besondere Gattung sind Dokumente über eine insgeheime Parteigründung innerhalb der Liberaldemokratischen Partei, die später in den Verhören und Prozessen eine schwerwiegende Rolle spielen sollten. Das Unterfangen, Esch selbst sprechen zu lassen, wird zweifellos eingelöst bis hin zum Abdruck seiner beiden Gnadengesuche an den Obersten Sowjet.
Weit weniger breit werden die rund 18 Monate dargestellt, die Esch "in den Fängen der sowjetischen Staatssicherheit" verbrachte. Diese Zeit war allerdings durch die rührige Erinnerungsarbeit von überlebenden Weggefährten auch bislang in groben Zügen bekannt. [1] Auf ein wirkliches Schlussresümee verzichtet die Autorin; der knappe Epilog skizziert nur das weitere Schicksal jener politischen Freunde von Esch, die, wie der spätere FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach, überlebten.
Insgesamt ist die Darstellung sehr fokussiert auf ihren "Helden", dessen Liberalismus-Affinität mit dem vergleichsweise liberal-weltoffenen Klima seiner Heimatstadt bis 1939 und den Kontaktpersonen erklärt wird, auf die der frischgebackene Jura-Student in Rostock traf. Reflexionen über das Genre Biographie, ihre Möglichkeiten und Grenzen werden nicht angestellt. Das heißt nicht, dass Natalja Jeske nicht versucht, Eschs Vita in die allgemeine Entwicklung sowie die der LDP einzubetten. Aber Eschs Handeln und Denken sind immer der Maßstab zur Einordnung und Bewertung der Geschehnisse. In gewisser Weise wird die Geschichte der Liberaldemokraten und der SBZ durch seine Brille gesehen.
Hier macht sich zum einen bemerkbar, dass die herangezogene Literatur anders als im Fall der Quellen gerade in Bezug auf den Nachkriegsliberalismus eher schmal und nicht unbedingt aktuell ist. [2] Das führt mitunter zu einer verkürzten Perspektive, etwa bei der Demokratischen Partei Deutschlands, einem kurzlebigen Dachverband der Liberalen aller Zonen, der keineswegs nur am inner-liberaldemokratischen Konflikt zwischen Zonenverband und den (West-)Berliner Liberalen gescheitert ist, sondern vor allem an unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen West und Ost. [3]
Auch ist die Sympathie der Autorin für ihren "Helden" unübersehbar. Viel verwendet sie darauf, sein Agieren als konsequent und folgerichtig darzustellen, etwa im Fall der Gründung jener erwähnten Geheimorganisation, die Esch 1948 mit anderen jungen Liberaldemokraten Ende 1948 zunächst als "Radikal-soziale Freiheitspartei" aus der Taufe hob, um die LDP in der Auseinandersetzung mit der SED bestehen zu lassen und zugleich für den "Tag X" der Wiedervereinigung gewappnet zu sein. Abgesehen davon, dass die "Geheimpartei" binnen kurzem mehrfach ihren Namen wechselte, ist der strategische Widerspruch bei Esch und seinen Mitstreitern, einerseits die LDP als eigenständige liberale Kraft bereits Ende 1948 weitgehend abgeschrieben zu haben und andererseits in dieser doch die einzige Möglichkeit der Gegenwehr gegen die Diktatur der SED zu sehen, aber nur schwer aufzulösen.
Ähnliches gilt auch für den Umstand, dass die Risiken eines Eintretens für liberale und demokratische Werte angesichts der Repressionen, unter denen Liberal- und Christdemokraten auf allen Ebenen litten, unübersehbar waren. Mit der Verhängung von Todesstrafen, die zum Zeitpunkt der Verhaftung der Gruppe um Esch im Machtbereich der Sowjetunion ausgesetzt war und dann wieder rückwirkend in Kraft gesetzt wurde, hatte aber keiner gerechnet. Neben Esch wurden fünf weitere verhaftete Liberaldemokraten durch die sowjetische Militärgerichtsbarkeit, die rein formal, aber völlig losgelöst von rechtsstaatlichen Prinzipien ausgeübt wurde, hingerichtet.
Und damit wird auch deutlich, warum diese Biographie weit über die Historiographie zur Entstehung der SED-Diktatur bedeutsam ist: Hier kann man noch einmal sehr quellengesättigt nachlesen, was es heißt, im sowjetischen Machtbereich für westliche, liberal-demokratische Prinzipien einzutreten. Eindrucksvoll hat Natalja Jeske dem liberal grundierten Widerstand gegen die sowjetischen Besatzer ein Denkmal gesetzt, das wohl auch dann noch Bestand haben wird, wenn der Gedenkplatz an Esch und andere Opfer des Stalinismus auf dem Donskoje-Friedhof in Moskau nicht mehr existieren sollte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. beispielsweise Horst Köpke / Friedrich-Franz Wiese: Mein Vaterland ist die Freiheit. Das Schicksal des Studenten Arno Esch. Rostock 1990
[2] Als jüngere Untersuchung zur Frühzeit der Partei sei auf Michael C. Bienert: Zwischen Opposition und Blockpolitik. Die "bürgerlichen" Parteien und die SED in den Landtagen von Brandenburg und Thüringen (1946-1952). Düsseldorf 2016 sowie als Überblick auf Siegfried Suckut: Die Blockparteien und Blockpolitik in der SBZ/DDR 1945-1990. Leipzig 2018 verwiesen.
[3] Vgl. Jürgen C. Heß: Fehlstart. Theodor Heuss und die Demokratische Partei Deutschlands 1947/48. In: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 9 (1997), 83-122.
Natalja Jeske: Arno Esch. Eine Biografie, Schwerin: Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur 2021, 450 S., ISBN 978-3-933255-63-1, EUR 10,00
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