sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8

Judith Matzke / Frank Metasch (Hgg.): Nach Amerika!

Die vielfältigen Verflechtungen der sächsischen Landesgeschichte spiegeln sich unter anderem in den Beständen von Sammlungsinstitutionen in Sachsen wider. So verdeutlichen die Briefe von Ida und Ottokar Dörffel, verfasst 1854 bis 1906 und überliefert im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz, das Leben von Emigranten aus Sachsen in der südbrasilianischen Siedlung Dona Francisca, heute Joinville. Zum 200. Geburtstag des ehemaligen Glauchauer Bürgermeisters wurden diese Alltagsdokumente 2018 editiert und publiziert. [1] Es folgten eine Ausstellung und eine Tagung im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz, deren Ergebnis der Band Nach Amerika! ist.

Die überseeische Migration aus Deutschland ist hinlänglich erforscht. [2] In ihrer konzisen Einleitung bemängeln die Herausgeber:innen Judith Matzke und Frank Metasch aber völlig zu Recht "weiße Flecken" der Forschung: Fehlende Akteur:innenperspektiven, der Fokus auf einzelne deutsche Territorien oder regionale Vergleiche bleiben Desiderate (10). Auch Mathias Beer konstatiert in seiner tour d'horizon durch die Entwicklung der "Historische[n] Migrationsforschung in Deutschland", sie habe sich "zu einem ebenso anerkannten wie stark diversifizierten Forschungsfeld" (37) entwickelt. Allerdings wurde Migration häufig durch die "Brille des modernen Nationalstaats" betrachtet, was unter anderem Landes- und regionalhistorische Verflechtungsgeschichten ausblende (39). Die folgenden dreizehn Aufsätze, thematisch entlang der Migrationsprozesse gegliedert, versuchen einige dieser Forschungslücken zu schließen (57-72).

Die Anzahl überseeischer Migrant:innen aus Sachsen war verhältnismäßig gering. Lutz Vogel führt wirtschaftliche, religiöse und politische Gründe für die überwiegend aus ärmeren Schichten und landwirtschaftlichem Hintergrund kommenden Auswander:innen an (41-56). Motive für das herrschaftliche Interesse Fürst Otto Victors I. von Schönburg-Waldenburg in überseeische Siedlungsvorhaben untersucht hingegen Michael Wetzel. Er arbeitet dynastische Überlegungen, ein missionarisches Bedürfnis und den Pauperismus in den Schönburgischen Herrschaften heraus. Aktuelle Forschungen zum kolonialen Erbe im Naturalienkabinett Waldenburg [3], das kolonialpolitische Engagement des Fürsten in Adels- und Kolonialvereinen und im sächsischen Landtag sowie die weitreichende Vernetzung des Fürsten mit der evangelischen Mission und deren ambivalenter Verflechtung mit dem europäischen Kolonialismus [4] hätten hier durchaus die weitreichendere These zugelassen, dass Otto Victor I. seine Stellung im europäischen Hochadel ganz bewusst durch Aneignung kolonialen Besitzes aufwerten wollte.

Eine Scharnierfunktion zwischen Sachsen und Brasilien übernimmt Ricarda Musser in ihrer präzisen Analyse deutscher "Auswanderungsratgeber nach Südbrasilien". Anhand prägnanter Beispiele gibt sie einen differenzierten Überblick über diese aufschlussreichen "Quellen zum Bild Brasiliens in der Migrationsgeschichte" (88) und zeigt, dass diese zwar "im Zeitalter der Auswanderung nützliche Informationsmedien" (86) waren, ihre Darstellung der Lebensrealität von deutschen Einwanderern häufig politischen und wirtschaftlichen Intentionen folgte (73-88).

In dieser Lebensrealität, betont Roland Spliesgart, hätten zudem weder die gesellschaftlichen und politischen Eliten der brasilianischen Monarchie noch die des deutschen Kaiserreichs ein Interesse an der kulturellen Anpassung deutscher Protestanten an die brasilianische Kultur gehabt. Erstere erhofften sich wirtschaftliche, politische und rassistische Vorteile von der Erhöhung der weißen Landbevölkerung. In Deutschland herrschte die kolonialpolitisch inspirierte Ansicht vor, deutsche Auswanderer sollten ihre Traditionen unbedingt bewahren. Allerdings fand der gesellschaftliche und religiöse Alltag in den Provinzen Río de Janeiro und Minas Gerais irgendwo dazwischen statt (117-118). So oszillierten die "Lebensmodelle deutscher Einwanderer in Brasilien" zwischen Akkulturation und Abgrenzung zur Aufnahmegesellschaft. In ihren Briefen verorteten Ida und Ottokar Dörffel ihre Identität zwischen diesen beiden Polen. Das zeigt Judith Matzke eindrücklich, in dem sie Aussagen zu verschiedenen kulturellen Feldern bündelt. Die Dörffels sahen keinen Widerspruch zwischen einer Offenheit gegenüber der Aufnahmekultur und der Betonung ihres "Deutschtums". (119-148)

Die Auswirkungen dieser Dichotomie auf erinnerungspolitische framings und persönliche Verhaltensmuster skizzieren Dilney Cunha und Danny Weber in ihren Aufsätzen zur Genese der Erinnerungskultur in Joinville seit dem 19. Jahrhundert (149-162) und zur Auswanderung des deutschen Biologen Fritz Müller (1822-1897) nach Blumenau (163-174). Das Narrativ der deutschen Überlegenheit überlagerte zudem die historische Aufarbeitung der Sklaverei. Obwohl diese, wie Débora Bendocchi Alves betont, "im Brasilien des 19. Jahrhunderts [...] das wichtigste Arbeitssystem" war, schien sie in der Historiographie Südbrasiliens bis in die 1980er-Jahre unsichtbar zu sein (176).

Einer weiteren sozialen Minderheit widmet sich Jürgen Nitsche in seinem Aufsatz über "Wege jüdischer Auswanderer aus Chemnitz nach Brasilien". Eine systematische Befragung der aneinandergereihten "[b]iographische[n] Splitter" aus den Jahren 1882 bis 2008 bleibt allerdings größtenteils aus. Die Darstellung der Beweggründe, der gesellschaftliche und der religiöse Alltag der jüdischen Auswanderer in Brasilien verharrt leider im allzu Schematischen (197-240).

Zuletzt weitet der Band den geographischen Blick. Sandra Miehlbrandts Aufsatz skizziert Hermann Burmeisters "Beweggründe": Wissenschaftliche Neugier, sein geringes Standing an der Universität Halle, gesundheitliche, private und letztlich auch politische Gründe bewegten den Naturforscher zur Auswanderung nach Buenos Aires (241-266). Das Wirken der Industriellenfamilie Werner im argentinischen Rosario und ihre Verflechtung mit der lokalen deutsch-argentinischen Vereinsszene rekonstruiert Valentin Kramer (267-292). Einen "Sonderfall in der Geschichte der Emigration aus Sachsen", die Auswanderung der Stephanisten, bei der 1838/39 über 600 Personen ihrem religiösen Anführer Martin Stephan in die USA folgten, stellt Sönke Friedreich eindrucksvoll vor (293-214). Die Auswanderung Eugen Hungers und seiner Familie nach Indiana skizziert Karsten Jahnke anhand eines Konvolutes aus dem Sächsischen Volkskunstmuseum (315-340), bevor Judith Matzke den Band mit einer kurzen Text über die Begleitausstellung im Sächsischen Staatsarchiv und einer Auswahl an abgebildeten Dokumenten daraus beschließt (341-276).

Insgesamt ist Nach Amerika! ein sehr lesenswerter, mit allen gängigen Formalien ausgestatteter Sammelband, der sich den eingangs formulierten Forschungsdesideraten auf breiter Quellenbasis multiperspektivisch annimmt. Dem einen oder anderen Aufsatz hätte ein wenig systematische Vertiefung nicht geschadet. Kolonial- oder globalhistorische Ansätze werden leider nur am Rand rezipiert. Auch hätte ein wenig inhaltliche Straffung hier und dort das Lesevergnügen erhöht. Das alles macht der Band an anderen Stellen mühelos mit spannenden und sehr lesenswerten Studien wett, die an der Schnittstelle von sächsischer Landesgeschichte, Verflechtungsgeschichte und historischer Migrationsforschung vielfältige neue wissenschaftliche Impulse geben.


Anmerkungen:

[1] Judith Matzke: Von Glauchau nach Brasilien. Auswandererbriefe von Ida und Ottokar Dörffel aus Brasilien (1854-1906), Halle 2019.

[2] Vgl. u.a. Klaus Bade: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000.

[3] Vgl. Eine heikle Sammlung. Koloniales Erbe im Naturalienkabinett. URL: https://www.museum-waldenburg.de/forschen-bewahren/forschen, letzter Besuch: 21.06.2022.

[4] Vgl. u.a. Thoralf Klein: Mission und Kolonialismus - Mission als Kolonialismus. Anmerkungen zu einer Wahlverwandtschaft, in: Kolonialgeschichten (Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen), hgg. von Claudia Kraft / Alf Lüdtke/ Jürgen Martschukat, Frankfurt a.M. 2010, 142-161. Sowie: Rebekka Habermas / Richard Hölz (Hgg.): Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2014.

Rezension über:

Judith Matzke / Frank Metasch (Hgg.): Nach Amerika! Überseeische Migration aus Sachsen im 19. Jahrhundert (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; Bd. 66), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2021, 389 S., 70 Abb., ISBN 978-3-96023-378-7, EUR 80,00

Rezension von:
Mario Kliewer
Dresden
Empfohlene Zitierweise:
Mario Kliewer: Rezension von: Judith Matzke / Frank Metasch (Hgg.): Nach Amerika! Überseeische Migration aus Sachsen im 19. Jahrhundert, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/07/36759.html


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