Der 2016 in einer Volksabstimmung geäußerte Wunsch einer Mehrheit der britischen Wähler, die Europäische Union zu verlassen, hat alle Europaanhänger innerhalb und außerhalb Großbritanniens böse überrascht. Sowohl die unmittelbaren als auch die tieferen Ursachen dieses Brexits bleiben weiterhin schwer durchschaubar.
Um dem abzuhelfen, greift der emeritierte deutsch-amerikanische Historiker Volker Berghahn bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als sich die drei industriellen Hauptmächte Großbritannien, USA und Deutschland um den Status einer Weltmacht einen Wettlauf zu liefern begannen, der dann durch deutsche Schuld zweimal zu einem Weltkrieg geführt habe. Als Folge der gewaltigen Kriegskosten sei Großbritannien schon aus dem Ersten Weltkrieg nur als Scheinsieger hervorgegangen; schlimmer noch, der eigentliche Sieger, die USA, hätte nach dem Krieg finanziell eher Deutschland als dem Vereinigten Königreich auf die Beine geholfen. Im Zweiten Weltkrieg hätte das Abkommen von Bretton Woods (1944), das den Dollar zur Weltreservewährung machte, das Ende der britischen Weltmachtstellung besiegelt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg, so Berghahn, vertraten die beiden angelsächsischen Mächte einander widersprechende weltpolitische Konzepte: Die USA strebten nach einer "Open Door" für eine globale Prosperitäts- und Freihandelszone, die auch das besiegte Deutschland umfassen sollte; Großbritannien dagegen wollte das durch Einfuhrzölle geschützte Commonwealth wiederherstellen und hoffte, durch begrenzte deutsche Reparationen für seine materiellen Kriegsverluste entschädigt zu werden. Die Beteiligung an der mit dem Schuman-Plan eingeleiteten wirtschaftlichen Integration Westeuropas lehnte London mit Rücksicht auf das Commonwealth ab. Alle Weltmachthoffnungen musste Großbritannien mit der Suezkrise im Herbst 1956 begraben, als sich die USA zusammen mit der UdSSR gegen die britische Kolonialmacht hinter Ägypten als künftige Kontrollinstanz für den Suezkanal stellten.
Erst unter dem Eindruck dieser Niederlage, so hebt der Autor hervor, wandte sich Großbritannien Europa zu und trat nach Überwindung eines zähen französischen Widerstandes 1972 dann der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei. Eine 1975 durchgeführte Volksabstimmung bestätigte diese Entscheidung mit klarer Mehrheit (67,2% stimmten mit Ja bei einer Wahlbeteiligung von 64 % der Stimmberechtigten). Die vier Jahrzehnte der britischen Mitgliedschaft in der EU behandelt der Verfasser im Eiltempo. Entscheidend wurde für ihn der Übergang Großbritanniens von einer industriellen Produktions- zu einer Finanzwirtschaft, den Margaret Thatcher im Namen eines radikalen Liberalismus und auf Kosten einer krassen Schlechterstellung der arbeitenden Bevölkerung vor allem im nördlichen England durchsetzte und damit langfristig zum negativen Ausgang der Volksabstimmung über die weitere britische Mitgliedschaft in der EU beitrug. Die neuerliche Volksbefragung über den Verbleib in der EU setzte der konservative Premierminister Cameron 2013 primär an, um seine innenpolitische Stellung zu festigen - wie das Votum für den Brexit zeigte, eine grandiose Fehlkalkulation.
Die letzten drei Kapitel von Berghahns Buch schildern dann, vielfach auf Pressestimmen gestützt, ausführlich die innerbritischen und britisch-europäischen Verhandlungen um die Modalitäten dieses Brexits. Hatte bei der Volksabstimmung die Furcht vor einer unkontrollierten Einwanderung eine Hauptrolle gespielt, so fuhren sich die Verhandlungen mit der EU mehr an der weiteren britischen Zugehörigkeit zu einer gesamteuropäischen Freihandelszone beziehungsweise dem Binnenmarkt fest. Noch mehr galt dies für einen Streitpunkt, der vor dem Referendum unbeachtet geblieben war: für die Stellung Nordirlands für den Fall der Wiedereinführung einer Zollgrenze zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Irland und die EU lehnten dies ab, der protestantische Bevölkerungsteil Nordirlands umgekehrt dagegen den Ausschluss Nordirlands aus dem britischen Zollverband. Über diese Frage zerstritt sich die konservative Partei heillos. In der vergeblichen Hoffnung auf eine Unterstützung durch die deutsche Bundeskanzlerin und nach de facto verlorenen Unterhauswahlen trat Theresa May, Camerons glücklose Nachfolgerin, im Juli 2019 zurück.
In aller wünschenswerten Ausführlichkeit schildert der Autor schließlich das innen- und außenpolitische Tauziehen, mit dem der neue Premierminister Boris Johnson im Einklang mit den Wünschen der britischen Wirtschaft auf einen baldigen "weichen" Brexit hinarbeitete, der einen vertragslosen britischen EU-Austritt und damit den kompletten britischen Ausschluss aus dem europäischen Binnenmarkt vermied. Seine innerparteilichen Gegenspieler, die "hard Brexiteers", trösteten sich mit der vom US-Präsidenten Trump vorgetäuschten Aussicht auf engere anglo-amerikanische Wirtschaftsbeziehungen. Erst nach nochmaligen und diesmal überaus erfolgreichen Wahlen und nach der Beilegung von komplizierten Verfahrensproblemen gelang Johnson am 24. Dezember 2020 der Abschluss eines Abkommens mit der EU für einen "weichen" Brexit.
Zusammen mit der konservativen Presse feierte Johnson seinen Verhandlungserfolg, wie Berghahn abschließend zeigt, als den Einstieg in eine "nationale Erneuerung" Großbritanniens, während der "Independent" die britischen Unterhändler mit "treibenden Fischen" verglich und der "Guardian" nach diesem Sieg eines naiv-vereinfachenden Populismus um den weiteren Zusammenhalt des Vereinigten Königreiches fürchtete. Innerlich gestärkt, so schließt der Verfasser, ging dagegen unter der Federführung ihres Chefunterhändlers Michel Barnier die EU aus dem Brexit-Drama hervor.
Berghahn behandelt sein Thema zuerst im Zeitraffertempo, dann mit Beginn der Brexit-Verhandlungen eher zeitlupenhaft. Dass er die Brexit-Entscheidung durchgängig als Folge des wirtschaftlich-politischen Niederganges des britischen Empires darstellt, erscheint nicht als wirklich zwingend. Hätte das Inselreich nach dem Zweiten Weltkrieg, statt von dem europäischen Kontinent auf Distanz zu bleiben, auf seinen weiteren Niedergang nicht ebenso gut mit einer Hinwendung zu Festlandeuropa reagieren können, zu der es sich 1960 dann nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen auch tatsächlich entschloss? Zur Beantwortung dieser Frage hätte der Verfasser die britische Europapolitik unmittelbar nach 1945 viel gründlicher berücksichtigen müssen, als er dies getan hat. Er hätte dann auch den britischen Premierminister Harold Macmillan zitieren können, der Ende der 1950er Jahre noch großsprecherisch-optimistisch vorausgesagt hatte, die EWG werde sich in einer britisch geführten europäischen Freihandelszone auflösen, wie "ein Stück Zucker im Tee". Berghahn wäre so auch auf die langfristigen europakritischen Vorbehalte Englands gestoßen, welche die Suez-Krise überdauerten und dann in der Brexit-Debatte wiederauftauchten. Insgesamt lässt die Lektüre dieses facettenreichen Buches den Leser über den tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem britischen "Abschied von der Welt" und den Ursprüngen und Kapriolen des Brexits somit immer noch ein wenig im Ungewissen.
Volker R. Berghahn: Englands Brexit und Abschied von der Welt. Zu den Ursachen des Niedergangs der britischen Weltmacht im 20. und 21. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 248 S., ISBN 978-3-525-30607-9, EUR 29,00
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