sehepunkte 22 (2022), Nr. 11

Isser Woloch: The Postwar Moment

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs kurzzeitig umfassende Gesellschaftsreformen denkbar werden ließen, da breite Bevölkerungsteile eine friedlichere und gerechtere Ordnung als Belohnung für die erbrachten Opfer herbeisehnten, nutzten nicht nur Kommunisten die Krise, um für ihr revolutionäres Gesellschaftsmodell zu werben; auch die nicht-marxistische Linke versuchte, die Gelegenheit zur Durchsetzung ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen zu nutzen. In "The Postwar Moment" untersucht Isser Woloch, Emeritus an der Columbia University, deren Ideen, Ziele und Errungenschaften in den westlichen Siegermächten der unmittelbaren Nachkriegszeit in komparativer Perspektive.

Die drei Länder bieten sich für eine solche vergleichende Untersuchung besonders an. Sie waren Demokratien und als Siegermächte aus dem Krieg hervorgetreten. Vor allem aber kamen zum Kriegsende Parteien links der Mitte an die Macht (beziehungsweise blieben es im Fall der USA), die trotz historischer Differenzen ähnliche Ziele und Programme verfolgten. Diese waren in den Kriegsjahren entwickelt worden und hatten 1944 im Programm des Conseil national de la Résistance, "The People's Program for 1944" des Congress of Industrial Organization und 1945 im Wahlprogramm "Let Us Face the Future" der Labour Party ihren Ausdruck gefunden. So behandelt "The Postwar Moment" "drei verschiedene Szenarien [...] einer einzigen Geschichte" (405).

Das Buch besteht aus drei chronologisch aufgebauten Teilen mit je drei Unterkapiteln, die jeweils einem der Länder gewidmet sind. Teil 1 nimmt die Entstehungsgeschichte der drei progressiven Bewegungen vor und während des Kriegs in den Blick. Teil 2 untersucht die zur Verwirklichung der Reformagenden geführten politischen Kämpfe nach Kriegsende und der letzte Teil geht auf ihre Umsetzungen ein. Durch diesen Aufbau wird im Vergleich der drei Bewegungen besonders anschaulich, warum einige Länder mehr progressive Reformen erlebt haben als andere und warum diese in bestimmten Bereichen leichter oder schwieriger zu erreichen waren.

In Großbritannien setzte die Labour Party nach ihrem erstaunlichen Wahlsieg 1945 umfassende Reformen in Gang. Dazu zählen die Gründung des National Health Service, die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien wie der Kohleindustrie, Strom produzierender Unternehmen und der Eisenbahn, der Ausbau von Gewerkschaftsrechten sowie die Fortführung von Preiskontrollen, Güterrationierungen und Subventionen aus Kriegszeiten. Im Bereich der Bildung dagegen war der Reformelan begrenzt und die politischen Widerstände erschienen zu groß, um weitere Veränderungen durchzusetzen.

In Frankreich hatte dagegen keine Partei eine absolute Mehrheit. So kam es 1945 zu einer Koalition aus Sozialisten, Kommunisten und sozialen Katholiken, die eine "soziale Demokratie" einführen (81) und dem Staat eine führende Rolle in der Wirtschaft geben wollte. Die Heterogenität der Koalitionäre machte eine Großbritannien vergleichbare massive Umgestaltung aber schwierig. Lediglich der Umbau der Sozialversicherung, die Schaffung von Institutionen für eine nationale Wirtschaftsplanung sowie der Neubau beziehungsweise die Reparatur von im Krieg beschädigten Gebäuden lassen sich als Erfolge der Dreier-Koalition verbuchen. Nach dem Rauswurf der Kommunisten aus der Regierung 1947 infolge von Uneinigkeiten über US-Wirtschaftshilfen, den Indochinakonflikt, die Bekämpfung der Inflation und den Umgang mit eskalierenden Streiks kam es zu einer zentristischen Zweierkoalition, die sich sowohl von den Kommunisten links auch von den Gaullisten rechts abgrenzte und das Ideal einer Troisième Force beschwor, in dieser Abwehrhaltung aber den Reformimpuls zunehmend verlor.

In Amerika verlor die Truman-Administration 1946 ihre Mehrheit im Kongress, sodass sie ihr Ziel, eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen, nicht erreichte und durch den Taft-Hartley Act des Kongresses sogar einen deutlichen Abbau von Arbeitnehmerrechten hinnehmen musste. Bereits zuvor hatte die sogenannte Conservative Coalition aus Republikanern und Südstaatendemokraten den ambitionierten Employment Act von 1946, der die Bundesregierung eigentlich verpflichten sollte, durch eine antizyklische Wirtschaftspolitik Vollbeschäftigung zu garantieren, auf die Schaffung eines Council of Economic Advisors reduziert sowie dem im Krieg geschaffenen Office of Price Administration die Grundlage für eine effektive Preisregulierung entzogen. Eine Sozialdemokratisierung Amerikas scheiterte insofern. Allerdings war die Truman-Administration im Bildungsbereich erfolgreicher als die britischen und französischen Progressiven: Die GI Bill of Rights von 1944, die ins zivile Leben zurückkehrenden und sich an Universitäten immatrikulierenden Veteranen Stipendien versprach, legte den Grundstein für eine Bildungsexpansion. Außerdem steht die Desegregation des US-Militärs 1948 auf ihrer Habenseite. Die Truman-Administration erscheint so nicht als schwache Verlängerung der Roosevelt-Administration, sondern als eine neue politische Kraft mit eigenen ambitionierten Zielen.

"The Postwar Moment" ist eine von breitem Wissen geprägte Synthese, die ihre Argumente in klarer Prosa ausbreitet und dabei biographische Skizzen führender Akteure, Rekonstruktionen politischer Aushandlungsprozesse sowie Analysen von Parteiprogrammen, Wahlen und Meinungsumfragen gekonnt miteinander verbindet. Besonders zwei Blickwinkel von Woloch auf den Untersuchungsgegenstand sind hervorzuheben. Zum einen richtet er eine neue Perspektive auf die Nachkriegszeit, die nicht als eine von Resignation am Ende des in absoluten Zahlen verheerendsten Kriegs der Geschichte oder als eine von lähmender Angst vor einem neuen Krieg mit der Sowjetunion geprägte Zeit erscheint, sondern als ein von großem Optimismus und Aktivismus getragener Moment, in dem es den handelnden Akteuren möglich schien, umfassende Reformgesetzgebungen zu initiieren.

Zum anderen nimmt Woloch infolge seines Fokus auf die progressiven Kräfte eine Neuperiodisierung vor. Für ihn markiert die Nachkriegszeit eine äußerst kurze Zeitspanne, die 1944/45 begann und im Falle Frankreichs bereits 1948 beziehungsweise in Großbritannien und den USA 1951 endete, als der Reformelan erlahmte oder die progressiven Regierungen abgewählt wurden. Sie erstreckte sich demnach weder bis in die Mitte der 1950er und die frühen 1960er-Jahre, als die Nachkriegsgrenzen in Europa de facto akzeptiert wurden und sich beide Blöcke fest institutionalisiert hatten, noch erscheinen die 1970er-Jahre als entscheidende Zäsur, als "der Westen" nach den Goldenen Jahren des Wiederaufbaus ökonomisch in die Krise geriet.

Wolochs Untersuchungsdesign weist dabei die Stärken und Schwächen des komparativen Ansatzes auf. Durch den Vergleich werden die politischen Erfolge und Misserfolge der progressiven Kräfte in ihren jeweiligen nationalen Kontexten überzeugend herausgearbeitet und empirisch belegt. Anders als bei auf ein Land beschränkten Untersuchungen wird deutlich, wo die jeweiligen nationalen Besonderheiten lagen und bei welchen Phänomenen es sich um Entwicklungen handelte, die so ähnlich auch anderswo stattfanden.

Durch die strikte Abgrenzung der drei Untersuchungsländer erfährt der Leser allerdings wenig darüber, wie die progressiven Bewegungen einander beeinflusst, sich wahrgenommen und zusammengearbeitet haben. Da der Wiederaufbau internationale Zusammenarbeit erforderte und sich der westliche Block der Notwendigkeit gegenübersah, einen gewissen politisch-ideologischen Konsens, der das atlantische Bündnis fundierte, zu entwickeln, konnten aber bei der Konzeption der jeweiligen nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik grenzüberschreitende Gesichtspunkte kaum unberücksichtigt bleiben.

Wolochs These, dass es sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit um einen Moment gehandelt hat, der die hoffnungsvolle Umsetzung wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen teils möglich werden ließ, ist gleichwohl überzeugend. Sie ließe sich durch eine Vertiefung und Erweiterung des Untersuchungsrahmens sogar noch ausbauen. Zum einen beschränkte sich der Reformgeist nicht auf die politische Linke. Auch zentristische Strömungen und politische Kräfte rechts der Mitte setzten nicht auf Kontinuität. De Gaulles Provisorische Regierung etwa hatte bereits 1944/45 die Verstaatlichung der Kohle-, Elektrizitäts-, Gas- und Luftfahrtindustrie sowie die Einführung des Frauenwahlrechts durchgesetzt. Überhaupt hing der Erfolg der von linken Parteien initiierten Programme maßgeblich davon ab, dass sie auch von Parteien der Mitte beziehungsweise rechts der Mitte mitgetragen oder zumindest mittelfristig akzeptiert wurden, sodass spätere Regierungswechsel eben nicht zu einem Rückgängigmachen aller progressiven Maßnahmen führten (so behielt etwa die konservative Nachfolgerregierung in Großbritannien den NHS bei und forcierte sogar den sozialen Wohnungsbau nach 1951 noch). Im entstehenden Kalten Krieg war die Kombination von demokratischen Verfahren und sozialpolitischen Reformen ein Merkmal der entstehenden westlichen Wertegemeinschaft, die damit kommunistischen Utopien begegnen wollte, und somit ein breites gesamtgesellschaftliches Phänomen, das sich nicht auf linke Strömungen begrenzte.

Zum anderen ließe sich bei der Untersuchung des kurzen Zeitfensters für progressive Reformen auch die Länderauswahl erweitern. Zu Kriegsende gab es zwischen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in West- und Osteuropa noch viele Gemeinsamkeiten, wie Jan de Graaf kürzlich gezeigt hat, sodass sich für die unmittelbare Nachkriegszeit auch ein gesamteuropäischer Blick auf den "Postwar Moment" anbieten würde. [1] Es lohnt, darüber nachzudenken, ob es sich 1945 (und in den Jahren danach) möglicherweise gar um einen globalen Moment handelte, in dem progressive Bewegungen auch in anderen Erdteilen wie Asien und Südamerika vergleichbare Reformagenden entwickelten, umsetzten und sich dabei gegenseitig inspirierten. Dafür ist Wolochs Buch ein lesenswerter, anregender und zuverlässiger Startpunkt.

[1] Jan de Graaf, Socialism across the Iron Curtain: Socialist Parties in East and West and the Reconstruction of Europe, Cambridge, Cambridge University Press, 2019.

Rezension über:

Isser Woloch: The Postwar Moment. Progressive Forces in Britain, France, and the United States After World War II, New Haven / London: Yale University Press 2019, XXII + 515 S., 29 s/w-Abb., 4 Tbl., ISBN 978-0-300-12435-4, USD 40,00

Rezension von:
Jasper Trautsch
Humboldt-Universität zu Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jasper Trautsch: Rezension von: Isser Woloch: The Postwar Moment. Progressive Forces in Britain, France, and the United States After World War II, New Haven / London: Yale University Press 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 11 [15.11.2022], URL: https://www.sehepunkte.de/2022/11/34011.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.