Der Titel des von Mark Chinca und Christopher Young herausgegebenen Sammelbandes "Literary Beginnings in the European Middle Ages" lässt sofort aufhorchen, suggeriert dieser bereits die Behandlung von gleich zwei strittigen Forschungsfragen: Zum einen die Eingrenzung und Bestimmung von historischen Epochen und zum anderen die Frage nach "Ursprüngen" oder "Anfängen" von Literatur bzw. Gattungen in ihrer unmittelbaren Wechselwirkung mit der jeweils vorgenommenen zeitlichen Einordnung. Letztlich wird ein Problem der Literaturgeschichtsschreibung adressiert, die sich dazu gezwungen sieht, einen spezifischen Anfangspunkt für die vorgenommene Darstellung zu setzen, der gleichsam den Kurs präkonfiguriert. Eine Ernüchterung folgt nach der von beiden Herausgebern Mark Chinca und Christopher Young vorangestellten Einleitung. Beide thematisieren zwar die Problematik des im Plural befindlichen Begriffes "beginnings" und beziehen ebenso die Darstellungsweise und narrative Formatierung spezifischer Literaturgeschichten in ihre Überlegungen zu literarischen Anfängen ein. Allerdings schlagen sie keine Definition vor oder reflektieren den Terminus "beginnings" auf einer theoretischen Ebene. Allein Sarah Kay unterscheidet in ihren Ausführungen zum Okzitanischen zwischen dem retrospektiv konstruierten "beginning" einer volkssprachigen Literatur und dem "opening" - letzterer Ausdruck denotiert einen textuellen Prototyp, einen "becoming-text", dessen Entwicklung permissiv ist (155). Entsprechend findet sich auch keine stringente Applikation des Begriffes "beginning" in den nachfolgenden Beiträgen. Dieser vermeintliche Makel zeichnet sich jedoch zugleich als Stärke des Bandes aus, der zwölf Beiträge zu volkssprachigen Literaturen in Europa umfasst und daher einen vielfältigen Überblick liefert - und der dargebotene Überblick erweist sich als primäres Charakteristikum.
Im Zentrum stehen jeweils die ältesten überlieferten Texte bzw. ihre zu rekonstruierenden fragmentarischen Überbleibsel, die anhand ihrer Gattung und Inhalte vorgestellt, je nach Fund auch literaturwissenschaftlich interpretiert und in den historischen Kontext verortet werden; ebenso wird auf die für die mittelalterliche Lebenswelt relevante Relation von Oralität und Schriftlichkeit berücksichtigt. Simultan diskutieren alle Beiträgerinnen und Beiträger den aktuellen Forschungstand und weisen ebenso auf Lücken und offene Fragen hin bzw. problematisieren etablierte Methoden. Erst im Nachwort reflektiert David Wallace den offenen Ansatz des Bandes und betont, dass die Beiträgerinnen und Beiträger sich den "powerful force fields of reception and cultural determinism" fernhalten, ohne diesen jedoch gänzlich zu entkommen, während sie sich ebenso vor "massive overdeterminations" wie beispielsweise in Bezug auf "national origins" oder "national agon" hüten (300). Auch rechtfertigt er den eher unbestimmten Begriff "Europa" und akzentuiert noch einmal die einzelnen Vorgehensweisen der jeweiligen Beiträge.
Bei der Ratio des Bandes, die nach den jeweiligen Volkssprachen gegliedert ist, fällt sogleich auf, dass zwar das Griechische eigenständig behandelt wird, dem Lateinischen jedoch kein gesondertes Kapitel gewidmet wird. Auf die reiche Tradition der in Westeuropa als lingua franca fungierende Sprache wird je nach Beitrag und Kontext verwiesen, gleichsam auch der mitunter enge Konnex zwischen dem Lateinischen und den Volkssprachen breiter thematisiert. Allerdings lässt sich hier im Hinblick auf die Frage nach "Anfängen" von "mittelalterlichen" Literaturen eine deutliche Lücke identifizieren. Die Kontinuität und Diskontinuit wie auch die Simultanität und reziproke Wirkung von lateinischer und volkssprachiger Literatur gerät dabei leider zusammen mit dem Begriff der "mittelalterlichen Literatur" in den Hintergrund.
Jeder Beitrag zu den jeweiligen Volkssprachen setzt sich zunächst mit dem Befund aus, der je nach Überlieferung recht unterschiedliche Ansätze erfordert. Roberta Frank muss beispielsweise im Hinblick auf den als "Skandinavien" gefassten Raum anhand der isländischen Buchkultur mit hohen Verlusten der Schriftträger umgehen, während handschriftliche Kopien sich bis in das 19. Jahrhundert nachverfolgen lassen. Marina S. Brownlee dagegen setzt sich mit dem komplexen "linguistic crucible" Spaniens auseinander, der das Lateinische, Okzitanische, Katalanische, Aragonesische, Galicisch-Portugiesische, Arabische, Hebräische und auch Kastilische umfasst (91).
Der Sammelband bietet einen hervorragenden Überblick über die ältesten überlieferten volkssprachigen Texte Europas einschließlich ihrer Diffusion und Rezeption; den vorhandenen Beständen entsprechend werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, weshalb die einzelnen Beiträge keinen stringenten Handbuchcharakter aufweisen. Die Aufsätze eignen sich sowohl als Einführung (allen voran für Studierende) als auch als erste Anlaufstelle für dominante Deutungsansätze der jeweils behandelten Literatur. Der anglo-amerikanischen Forschungstradition entsprechend ist der Stil tendenziell essayistisch ausgerichtet, was die Lektüre für die in der englischen Sprache nicht allzu geübten Leserinnen und Lesern deutlich erleichtern sollte.
Mark Chinca / Christopher Young (Hgg.): Literary Beginnings in the European Middle Ages (= Cambridge Studies in Medieval Literature), Cambridge: Cambridge University Press 2022, XI + 339 S., ISBN 978-1-108-47764-2, GBP 75,00
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