Peter Stabel gehört zu den bekanntesten Wirtschaftshistorikern des europäischen Mittelalters und hat sich in den letzten 25 Jahren vor allem mit der städtischen Wirtschaft in Flandern beschäftigt. Die Verbindungen zwischen einzelnen Städten sowie zwischen Stadt und Land, das Nebeneinander von Fernhandel und Lokalhandel, die Bedeutung der Zünfte und die Arbeit von Frauen, vor allem aber die flandrische Textilindustrie wurden von ihm in vielen Studien untersucht. Stabel interessierte sich in diesem letzten Themenfeld sowohl für die Produktionsprozesse und die damit verbundenen Technologien und Arbeitsbedingungen als auch für den Handel und die Verwendung der Textilien in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung. Diese unterschiedlichen Facetten verbindet der Autor in der vorliegenden Studie zum spätmittelalterlichen Textilgewerbe der flämischen Stadt Ypern.
Ypern war im 13. und 14. Jahrhundert ein europäischen Produktions- und Exportzentrum für wollene Luxustextilien. Peter Stabel bettet den Aufstieg und Niedergang der Textilindustrie Yperns in einen breiten sozialgeschichtlichen Kontext ein und bemüht sich darum, die Anpassungsfähigkeit und die Strategien der Kaufleute und der Arbeiter und Arbeiterinnen zu ergründen. In den einzelnen Kapiteln werden entsprechend die Konjunkturen des Wirtschaftszweiges, die technologischen Neuerungen und ihre Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und die Tuchqualität, die einzelnen Akteure von den Unternehmern über die Tuchhändler:innen bis zu den ungelernten Arbeiter:innen, die einzelnen Produktionsstufen mit den jeweils beteiligten Personengruppen und hierbei auch die häufig marginalisierte Rolle von Frauen, die verschiedenen wirtschaftspolitischen Revolten in Ypern mit ihren Auswirkungen auf das wirtschaftliche und soziale Gefüge der Stadt sowie der konjunkturbedingte Niedergang von Yperns Textilgewerbe im 15. Jahrhundert behandelt.
Verwertet wurden für die Studie unterschiedliche Quellengattungen, unter anderem Stadtrechnungen, Steuerlisten, zünftige und städtische Statuten sowie historiographische Texte. Das Ergebnis ist ein kenntnisreicher und anregender Blick hinter die Kulissen einer dynamischen und zeitweise äußerst erfolgreichen Textilindustrie. Die verschiedenen Zünfte des Textilgewerbes spielten dabei eine zentrale Rolle, allerdings sieht Stabel ihre Funktion nicht vorrangig in der Standardisierung der Produktion, sondern mehr noch in der Regulierung des Arbeitsmarktes.
Technologische Innovation und die Schaffung großen Reichtums standen einer wachsenden sozialen Ungleichheit in der Stadt gegenüber. Der Preis der Wolltücher (28-34m lang) war ein Indiz dafür: Um 1400 kosteten die gefärbten Tücher aus Ypern zwischen 5 und 6 flämische Pfund und entsprachen damit 120 bis 150 Tagelöhnen von Gesellen. Gewinner der wirtschaftlichen Expansion war eine kleine Elite, der eine große Unterschicht von armen ungelernten Arbeiter:innen gegenüberstand. Im Laufe des 15. Jahrhunderts verlor die Yperner Textilindustrie ihre Vorrangstellung. Wirtschaftlicher Erfolg war auch im mittelalterlichen Ypern weder dauerhaft noch gleichmäßig verteilt.
Ein Glossar mit den Fach- und Quellenbegriffen erleichtert das Lesen dieser anregenden wirtschaftshistorischen Studie, die insbesondere durch ihren multiperspektivischen Zugriff überzeugt.
Peter Stabel: The Fabric of the City. A Social History of Cloth Manufacture in Medieval Ypres (= Studies in European Urban History (1100-1800); Vol. 59), Turnhout: Brepols 2022, 278 S., 18 s/w-Abb., 10 Tbl., ISBN 978-2-503-60051-2, EUR 94,00
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