Anlässlich des 100. Geburtstags der Widerstandskämpferin Sophie Scholl am 9. Mai 2021 haben der Südwestrundfunk und der Bayerische Rundfunk eine Instagram-(Hi)Story initiiert, die von der Fiktion ausging, Sophie Scholl habe schon 1942 über einen Instagram-Account verfügt und mit anderen ihren Weg in den Widerstand geteilt. Die Hauptrolle in diesem Experiment übernahm die Schauspielerin Luna Wedler, die vor historischer Kulisse "hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit" (Klappentext) die letzten Wochen Sophie Scholls im Widerstand unter Anlehnung an ihre Tagebuchaufzeichnungen, aber auch mit viel künstlerischer Freiheit 'nachspielte'. Diese kontrafaktische Geschichtspräsentation sollte vor allem junge Frauen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren anregen, sich mit der Geschichte der berühmten Widerstandsgruppe 'Weiße Rose' näher zu beschäftigen. Tatsächlich verzeichnete die sehr aufwändige Inszenierung, die sich bis in den Februar 2022 zog, bisweilen rund 900.000 Follower und bekam rund 10.000.000 Likes. Zu beachten ist freilich dabei, dass dieses mediale Projekt während der Corona-Pandemie stattfand, in der alle möglichen digitalen Formate eine Hochkonjunktur erlebten.
Mia Berg und Christian Kuchler haben es nun unternommen, dieses erinnerungskulturell bedeutsame 'Event' genauer unter die Lupe zu nehmen und die Erträge in einem Sammelband zu präsentieren. Unter den Überschriften "Historische Einordnung und Kontexte", "Produktion", "Rezeption und Aneignung", "Studien" und "Perspektiven" fassen 14 Aufsatzbeiträge das Ereignis wie die Diskussion darüber zusammen. Dabei werden historische, geschichtsdidaktische, kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektiven mit solchen aus den Bereichen der Psychologie, der Public History und des Journalismus verbunden. Im Kern geht es der Herausgeberin und dem Herausgeber darum, zu analysieren, "wie Geschichte auf Instagram dargestellt wird, welche Potenziale und Herausforderungen sich ergeben, und dabei auch zur Beantwortung der Frage" beizutragen, "ob die Darstellung von Geschichte in den Social Media eine neue Dimension der Public History darstellt oder alte Debatten im neuen Gewand ausgelöst hat" (11).
Die historische Perspektive wird einleitend lediglich durch einen resümierenden Aufsatz von Hans Günter Hockerts über "History und Memory" im Fall Sophie Scholl repräsentiert. Dabei wird ein quellenkritischer Blick auf das geworfen, was wir über die Geschichte der einzigen Frau in der 'Weißen Rose' halbwegs sicher wissen, und nur in sehr groben Zügen ihre Rezeptionsgeschichte nach 1945 rekapituliert. Ansonsten kreisen die Beiträge ganz um das eigentliche Thema des Bandes: "@ichbinsophiescholl".
Von besonderer Bedeutung ist dabei der Aufsatz von Lydia Leipert, einer der 'Macherinnen' der Instagram-Story, die über erste Ideen und deren Umsetzung im Projekt berichtet. Was, wie und warum so und nicht anders angelegt wurde, erfährt der Leser aus diesem Projektbericht, so dass der Aufsatz zu einer hochrelevanten Quelle für die Erforschung der auf Social Media gestützten Erinnerungskultur werden wird.
Ebenso wichtig ist aber auch der vergleichende Blick von Tobias Ebbrecht-Hartmann von der Hebrew University in Jerusalem, der auf ähnliche Vorläuferproduktionen wie "@eva.stories" oder das Anne-Frank-Video-Tagebuch aufmerksam macht und zugleich betont, dass diese Social-Media-Formate die "Frage nach den 'Grenzen der Interaktion' im Kontext partizipativer Formen der medialen Aneignung und Auseinandersetzung mit historischen Erfahrungen und Perspektiven" (82) aufwerfen.
Auch kritische Perspektiven unterschiedlichster thematischer Ausrichtung bietet der Band: Tanja Thomas und Martina Thiele wundern sich zurecht darüber, dass kaum beachtet werde, wie @ichbinsophiescholl in Zusammenhang mit der Digitalisierungsoffensive der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten stehe, und fragen sich, ob es überhaupt angängig ist, dass sich beitragsfinanzierte Anstalten mit einem breiten öffentlichen Bildungsauftrag einer profitorientierten Technologie bedienen, die von Algorithmen getrieben ist. Schließlich unterwerfe man sich damit vordefinierter "Darstellungs-, Erzähl- und Interaktionsweisen" und verzichte auf andere Möglichkeiten, die Instagram aber nicht anbiete (120).
Die ausführlichste und differenzierteste Kritik wird von Nora Hespers und Charlotte Jahnz vorgetragen, die vor allem unter Hinweis auf jene fatale 'Jana aus Kassel', die sich bei einer Querdenkerdemonstration im November 2020 in Hannover mit Sophie Scholl verglichen hatte, auf die Problematik der weitgehenden Fragmentierung von Information durch das Instagramformat hinweisen. Eine vertiefte und kompetente Auseinandersetzung mit dem ernsten Problem des Widerstands in totalitären Regimen wird so massiv erschwert, und solch absurde geistige Verirrungen werden letztlich dadurch nur befördert. Dies betrifft auch die Nicht-Thematisierung des Gefahrenpotenzials, das durch eine so öffentliche Verbreitung innerer Einstellungen, wie sie heute über Social Media möglich ist, im Jahre 1942 für Sophie Scholl entstanden wäre, hätte sie denn schon über ein Smartphone verfügen können. So verwischen sich wichtige Kontexte, die aber für das Verständnis der historischen Sophie Scholl und den Widerstand der Weißen Rose wichtig sind, und es werden keine Einordnungen des peripheren, aber stets gegenwärtigen Kriegsgeschehens geboten. Das alles leistet allzu schnell Fehlinterpretationen oder gar politischen Instrumentalisierungen Vorschub.
Einen spannenden und kritischen Blick auf die Wirkung von @ichbinsophiescholl auf Schülerinnen und Schüler wirft schließlich Christian Kuchler, der die Ergebnisse einer Befragung von 1150 Schulpflichtigen im März/Mai 2022 an zwölf Real- und Gesamtschulen in Bayern, Nordrhein-Westfalen und im Saarland analysiert. Demnach nutzten neun von zehn Schülerinnen/Schülern zwar Instagram, doch mehr als 75 % hatten sich nicht für @ichbinsophiescholl interessiert, ja nicht einmal von diesem Angebot gehört. Diejenigen, die sich zumindest einmal das Angebot angesehen hatten, riefen es zumeist kein zweites Mal auf, lediglich 21 Schülerinnen und Schüler verfolgten @ichbinsophiescholl über eine längere Zeit. Kuchler schließt daraus, dass die befragte Gruppe der 13- bis 19-Jährigen Instagram allen anderslautenden Behauptungen entgegen eben doch kaum nutzt, um "Informationen und Wissen über historische Sachverhalte zu gewinnen" (171). Auch die Frage, ob eine allzu persönliche und in die Jetztzeit geholte historische Perspektive dem historischen Lernen dienlich ist, erscheint Kuchler diskussionswürdig.
Insgesamt weist der Band eine bemerkenswerte Ausleuchtung verschiedenster Perspektiven auf, die sich mit dem Medienereignis @ichbinsophiescholl verbinden. Für die weitere Auseinandersetzung damit ist er grundlegend, für die weitere Erforschung der Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert wird er unentbehrlich sein.
Mia Berg / Christian Kuchler (Hgg.): @ichbinsophiescholl. Darstellung und Diskussion von Geschichte in Social Media (= Historische Bildung und Public History; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2023, 246 S., 13 Farb-, 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5485-2, EUR 28,00
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