Die Kunst- und Wunderkammern, die Keimzellen moderner Museen, entstanden in der Frühen Neuzeit. Seit den 1980er-Jahren wird ihre Geschichte und Sammlungsform intensiv erforscht, was auch das umfangreiche Literaturverzeichnis der vorliegenden Publikation widerspiegelt. Sie basiert auf Sarah Wagners Dissertation, aus der die Autorin bereits 2021 zentrale Ergebnisse in einem Aufsatz veröffentlichte [1], der im Literaturverzeichnis allerdings fehlt.
Detailliert und kenntnisreich beleuchtet Wagner in den fünf Kapiteln ihres Buches das komplexe Phänomen und Ausstellungsmodell der Kunst- und Wunderkammern. Im Zentrum steht dessen Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert, die an die Ausstellungspraxis im 19. Jahrhundert anknüpfte und hier erstmals aus museologischer Perspektive betrachtet wird. Dabei beschränkt sich Wagner vor allem auf den deutschsprachigen Raum. Zahlreiche Abbildungen vermitteln eindrucksvolle Einblicke in verschiedene Kunst- und Wunderkammern und deren Inszenierungen vom 16. Jahrhundert bis heute.
In der Einführung gibt Wagner einen kurzen Überblick zur Geschichte der Kunst- und Wunderkammern, die zeitgleich mit der Eroberung neuer Kontinente als höfische, kirchliche oder bürgerliche Sammlungen entstanden. In ihnen verschmolzen Kunst, Natur, Exotik und Wissenschaft mit dem Ziel, "die Welt in ihrer Vielfalt und ihren Zusammenhängen zu erschließen". (9) Sie hatten zwar verschiedene Schwerpunkte und Bezeichnungen, unter anderem Raritäten- oder Kuriositätenkabinette, aber einen gemeinsamen Kanon typischer heterogener Sammlungsobjekte. Diese waren in dichter Anordnung kunstvoll arrangiert nur einem ausgewählten Personenkreis zugänglich. Meist reich verziertes Ausstellungsmobiliar verstärkte ihre besondere Ausstrahlung.
Der erstmals im 16. Jahrhundert nachgewiesene Begriff "Kunst- und Wunderkammer" bürgerte sich durch das 1908 erschienene Grundlagenwerk des Wiener Kunsthistorikers Julius von Schlosser [2] in der Forschung ein, worauf Wagner erst in den Anmerkungen am Buchende (253) hinweist.
Obwohl man die meisten dieser Kunst- und Wunderkammern im 19. Jahrhundert auflöste und ihre Sammlungen auf Spartenmuseen verteilte, existierten vor allem die fürstlichen von ihnen, wenn auch in abgespeckter Form, unter ihrem ursprünglichen Titel weiter, wurden erstmals in Museen integriert sowie öffentlich präsentiert. Weiterhin verband sie ein zentrales Kriterium: Ihre Exponate sollten die Besucher*innen zum Staunen bringen, Gewöhnliches blieb ausgeschlossen. Wie seit dem 19. Jahrhundert aus dem Sammlungs- ein Ausstellungsmodell wurde, zeigt Wagner im zweiten Kapitel anhand von fünf Beispielen, darunter die Kunst- und Wunderkammer Ferdinands II. auf Schloss Ambras, die ab 1814 im Belvedere Museum Wien mit großem internationalem Erfolg ausgestellt wurde. Sie hatte als einzige Sammlung noch das universale Gesamtkonzept, bis auch ihre Naturalia ausgegliedert wurden. Das enzyklopädische Sammlungskonzept der Kunst- und Wunderkammer galt als überholt, wurde aber noch wertgeschätzt, wie schriftliche Berichte belegen, und erlebte im 20. Jahrhundert ein Revival. Exemplarisch untersucht Wagner in chronologischer Reihenfolge fünf Ausstellungen von Sammlungen, die sie teils schon im ersten Teil des zweiten Kapitels thematisierte. Auf der Grundlage frühneuzeitlicher Inventarverzeichnisse konnten zwar 1930 in Berlin und 1960 in Dresden Originale fürstlicher Kunstkammern ausgestellt werden, die Sammlungsräume mussten jedoch anhand alter Fotografien rekonstruiert und reinszeniert werden. In Österreich gelang es Museen mit langer Sammlungs- und Ausstellungstradition hingegen, Kunst- und Wunderkammern als Dauerausstellungen in den ursprünglichen Räumen wieder erfolgreich zu etablieren, wie ab 1962 im Benediktinerstift Kremsmünster und ab 1974 im Schloss Ambras, und damit eine Vorreiterrolle einzunehmen.
In den vergangenen drei Jahrzehnten gab es viele Ausstellungen von Kunst- und Wunderkammern, die die Konzeptionen und Inszenierungen des 19. und 20. Jahrhunderts zum Vorbild nahmen, wie Wagner im dritten Kapitel an 15 Dauerausstellungen demonstriert. Sie arbeitet fünf Ausstellungstypologien heraus, für deren Analyse die Kernkomponenten Raum, Mobiliar, Objektbestand und Ordnungskonzept grundlegend sind. Historisierende Inszenierungen, wie etwa im Historischen Museum Bern, überwiegen, was damit zusammenhängt, dass die Überlieferung der Sammlungsbestände oft sehr lückenhaft ist. (Teil-)Rekonstruktionen wie in der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen in Halle, wo alle vier Komponenten, wenn auch mit Abstrichen, noch vorhanden sind, sind indes selten. Sie ist wahrscheinlich die einzige spätbarocke Kunst- und Wunderkammer Deutschlands, die fast kontinuierlich zugänglich war. Die Sammlung beinhaltet typische Objekte, die wir bis heute mit Kunst- und Wunderkammern oder Kuriositätenkabinetten verbinden, wie etwa das von der Decke hängende ausgestopfte Krokodil, Walknochen, Globen und Schiffsmodelle. Warum Wagner sie nicht bereits im zweiten Buchkapitel erwähnt, erschließt sich nicht. Als weitere häufige Typologien nennt Wagner moderne Inszenierungen, wie im Kunsthistorischen Museum Wien mit der größten und bedeutendsten Kunstkammer, Idealkonstruktionen nach historischen Traktaten, wie auf der Burg Trausnitz in Landshut, und dialogische Konzeptionen, in denen moderne Kunst miteinbezogen wird, realisiert in der "Wunderkammer Olbricht" in Berlin und Essen. [3] Die Grenzen sind dabei oft fließend, und die Ausstellungsmodelle bewegen sich zwischen Authentizität und Fiktion.
Die Definitionen zum Bestandskanon, der Exkurs zum Schlüsselobjekt "Krokodil" und die Auflistungen frühneuzeitlicher Ordnungsprinzipien im vierten Kapitel wären in der Einleitung oder einem Anhang besser aufgehoben. Relevant für die Praxis ist neben den Ausführungen zur Konservierung der Exponate und Ausstellungsgestaltung die Untersuchung, welche Aspekte bei der Transformation der Kunst- und Wunderkammern in den musealen Kontext verlorengehen und wie sie, beispielsweise bei der Vermittlung, kompensiert werden. In den heutigen Ausstellungsformaten wird das Sammlungsmodell sowohl für Dauer- und Sonderausstellungen als auch für künstlerische Installationen rezipiert, was an weiteren Fallbeispielen erörtert wird.
Welche Möglichkeiten das Internet zur virtuellen Rekonstruktion und Vernetzung von Kunst- und Wunderkammern bietet, prognostiziert Wagner im letzten Kapitel. Zu Recht kritisiert sie, dass Museen in ihren Kunst- und Wunderkammern die Herkunft ihrer Objekte nicht erforschen und in den Ausstellungen sichtbar machen. Auch wenn in den Inszenierungen, dem historischen Sammlungsmodell entsprechend, meist Texttafeln fehlen und Objektgruppen im Vordergrund stehen, darf dies kein Freibrief sein, um koloniales Unrecht auszublenden.
Übersichtstabellen statt der vielen sich wiederholenden Aufzählungen wären hilfreich gewesen, um Vergleiche zu erleichtern und den dichten Informationsfluss mehr zu strukturieren. Gleichwohl ist das Buch ein nützliches, inspirierendes Nachschlagewerk, das zu weiteren Forschungen anregt.
Anmerkungen:
[1] Sarah Wagner: Das Prinzip Kunstkammer. Ein historisches Modell in der gegenwärtigen Ausstellungspraxis, in: Wunderkammer im Wissensraum. Die Memorabilien der Stadtbibliothek Nürnberg im Kontext städtischer Sammlungskulturen (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg; Bd. 27), hg. von Christine Sauer, Wiesbaden 2021, 127-145.
[2] Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens, Leipzig 1908.
[3] Thomas Olbricht / Georg Laue (Hgg.): Wunderkammer Olbricht. Meisterwerke aus Renaissance und Barock (Ausstellung "...sogar der Fachmann staunt!", Werke aus der Sammlung Olbricht, Museum Folkwang, Essen, 22.10.2021-23.4.2023), Köln 2023.
Sarah Wagner: Die Kunst- und Wunderkammer im Museum. Inszenierungsstrategien vom 19. Jahrhundert bis heute, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2023, 304 S., 87 Farb-Abb., ISBN 978-3-496-01687-8, EUR 49,00
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