Das Narrativ hält sich hartnäckig: In wissenschaftlichen und massenmedialen Beiträgen zur letzten Lebensphase des Menschen findet sich häufig die Behauptung, das Sterben sei in Deutschland nach 1945 tabuisiert worden. [1] Florian Greiners Habilitationsschrift, die diese Thematik überzeugend in der Zeitgeschichtsforschung etabliert, zielt darauf, jene "Tabuisierungsthese" (65) zu widerlegen. Es geht ihm darum, "das Verdrängungsnarrativ aufzubrechen und konsequent zu historisieren, seinen Erfolg zu erklären und seine Folgen zu analysieren". (3) Denn eine solche Tabuisierung kann Greiner in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht erkennen, hingegen die "Entdeckung des Sterbens". Damit meint er, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein "verändertes Problembewusstsein" (ebd.) herausgebildet habe: Das Sterben sei insbesondere "nach dem Boom", also etwa seit den 1970er Jahren, zu einem "bedeutsamen gesellschaftlichen Konfliktthema" (ebd.) avanciert. Diesbezüglich hätten gesellschaftliche wie ökonomische Wandlungsprozesse und der medizinische Fortschritt neuartige Sinnkrisen hervorgerufen. Als Reaktion darauf seien von Vertreter:innen der Thanatologie, der Hospizbewegung, der Kirchen und der Gesundheitspolitik Bewältigungsangebote offeriert worden.
Im Fokus der Studie steht das Sterben ohne äußere Gewalteinwirkung als die dominante Form des Ablebens nach 1945. Auf Basis eines umfangreichen Quellenkorpus - es beinhaltet thanatologische Schriften ebenso wie Approbationsordnungen, Dokumente der Bundesärztekammer und Sterbehilfeorganisationen, Archivalien des Bundesarchivs, Gerichtsurteile, Zeitungsartikel und Rundfunksendungen - verfasst Greiner eine asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte: Er konzentriert sich auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik und der DDR, die seiner Ansicht nach das Sterben in vergleichbarer Weise problematisierten. Des Weiteren berücksichtigt Greiners wissenshistorische Analyse aber auch wirkmächtige Ansätze aus den USA, Großbritannien, der Schweiz, den Niederlanden oder Polen und nimmt die Folgen einer grenzüberschreitenden Wissenszirkulation nach dem Mauerfall in den Blick. Zudem rekurriert der Autor auf netzwerktheoretische Ansätze und Überlegungen der Medizingeschichte, etwa auf Charles Rosenbergs Konzept des "Framing Disease". Demzufolge betrachtet er das Sterben als eine biologische Tatsache, die aber auch soziale und kulturelle Funktionen besitzt und deren Rahmung durch Wissensbestände und kulturelle Wahrnehmungen determiniert wird. Bezugnehmend auf diese Methoden und entlang dreier "Achsen" (14) entwickelt die fast 700-seitige Studie ihre Geschichte des Sterbens: Dazu zählen erstens die "Ökonomisierung des Sterbens", zweitens die "Medialisierung des Lebensendes" und drittens "Solidarität am Lebensende" (vgl. 14-18).
Eingangs demonstriert der Autor, dass die Deutschen auf Kosten des Gesundheitswesens im 20. Jahrhundert immer älter wurden, sie immer häufiger an chronischen Erkrankungen starben und sie dies eher im Krankenhaus taten als zuhause (Kapitel 2). Anschließend beginnt Greiner, die Tabuisierungsthese zu dekonstruieren, deren Ursprung er auf die Publikation "The Pornography of Death" des britischen Schriftstellers Geoffrey Gorer zurückführt (Kapitel 3). Gorers 1955 veröffentlichte These sei anschließend in Westdeutschland rezipiert und instrumentalisiert worden; unterschiedliche Akteur:innen nutzten sie, um Religionsverdrossenheit, den Verlust traditioneller Werte und die Konsumgesellschaft zu kritisieren (vgl. 73f.). Durch diese Lesarten konnte die Tabuisierungsthese auch in der DDR verfangen. Als Konsequenz habe sich in beiden deutschen Staaten die Thanatologie als interdisziplinäre Wissenschaft formiert. Diese distanzierte sich laut Greiner von der kalten Apparatemedizin der Intensivstationen, interessierte sich für Phasen des Sterbens, leitete aus der Tabuisierungsthese ihre Legitimation ab und nahm Einfluss auf eine andere Entwicklung: die Sterbebegleitung im modernen Hospiz der 1960er Jahre.
Die Studie folgt jener Erforschung des Sterbens ebenso wie den Anfängen einer internationalen Hospizbewegung, die schnell das Interesse der Massenmedien weckte (Kapitel 4). In der Bundesrepublik stieß die Idee von "Sterbekliniken" jedoch zunächst auf Ablehnung. Man warf sie fälschlicherweise mit der aktiven Sterbehilfe in einen Topf, die in der DDR sogar zu einer Anklage wegen Mordes oder Totschlags führen konnte. Anders verhielt es sich mit der passiven Sterbehilfe: Diesbezüglich zeigt Greiner, wie sich unter Verweis auf die Patient:innenautonomie die Diskussionen in Ost und West in den 1980er Jahren annäherten (Kapitel 5). Die folgenden Kapitel analysieren die Etablierung des Hirntodkriteriums in West- und Ostdeutschland, das Relevanz für die Transplantationsmedizin besaß (Kapitel 6) und die Darstellung des Sterbens in den Massenmedien, die sich selbst gerne als Tabubrecher inszenierten (Kapitel 7).
Grundsätzlich, so bilanziert Greiner schlüssig, habe sich als Reaktion auf die Probleme am Lebensende seit den 1970er Jahren "ein nahezu identischer Ansatz" (358) in beiden deutschen Staaten herausgebildet. In diese Zeit fiel auch die medial begleitete und von der Pharmaindustrie unterstützte Etablierung der Hospiz- und Palliatividee (Kapitel 8 und 9). Zuletzt widmet sich die Studie der "Transformation des Sterbens" (507), die der Autor auf die Aids-Krise zurückführt. Denn seit den 1980er Jahren trugen nicht nur einzelne Infizierte ihr Sterben entschieden in die Öffentlichkeit. Neu war, dass nun Freunde und Bekannte die Sterbenden versorgten. Das taten aber - spätestens verstärkt nach dem Mauerfall - auch Hospize. Mitunter aus wirtschaftlichen Gründen wurden sie 1997 vom staatlichen Gesundheitssystem inkorporiert.
Insgesamt hat Florian Greiner eine bemerkenswerte transnationale Geschichte des Sterbens nach 1945 vorgelegt. Dabei zeigt er nicht nur, dass die Bundesrepublik und die DDR oftmals in ähnlicher Weise auf ein und dieselbe Problemwahrnehmung reagierten. Greiner dekonstruiert zudem bestimmte, in der Öffentlichkeit zirkulierende Narrative. Neben der Tabuisierungsthese ist dies beispielsweise die Behauptung, Religion habe am Lebensende im weitgehend säkularisierten Deutschland kaum Platz gehabt. Seine Studie weist vielmehr nach, dass das Sterben weiterhin zum "Kerngeschäft" (80) der Kirchen gehörte. Aufgrund dieser Korrekturen, aber auch aufgrund ihrer thematischen Breite, ihrer akribischen Quellenanalyse und ihrer drei aufschlussreichen Forschungsperspektiven stellt Greiners Studie ein wichtiges Referenzwerk dar. Wer wissen will, wie international verwobene Gesellschaften im 20. Jahrhundert versuchten, dem Sterben seinen Schrecken zu nehmen, wird nicht umhinkommen, es zu lesen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Wolfgang U. Eckart: Einleitung, in: Handbuch Sterben und Menschenwürde, Band 1, hgg. von Michael Anderheiden / Wolfgang U. Eckart, Berlin / Boston 2012, 1-15, hier 3.
Florian Greiner: Die Entdeckung des Sterbens. Das menschliche Lebensende in beiden deutschen Staaten nach 1945 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 137), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, VIII + 676 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-079799-2, EUR 79,95
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