Die Wissenschaftsgeschichte kann inzwischen als eines der ergiebigsten Teilgebiete der historischen Ostmitteleuropaforschung gelten. Insbesondere Multilingualität und Transnationalität sowie politische Systemumbrüche als spezifische Bedingungsfaktoren von Wissensproduktion in Ostmitteleuropa haben zuletzt das Interesse der Forschung auf sich gezogen. [1] Friedrich Cains an der Universität Konstanz verteidigte Dissertation rückt mit Krieg und Besatzung einen weiteren Umstand in den Mittelpunkt, der die Wissenschaftsgeschichte der Region im 20. Jahrhundert nachhaltig prägte. In seiner innovativen Studie zeichnet Cain nach, wie polnische Forscherinnen und Forscher ihre wissenschaftlichen Aktivitäten unter den repressiven Bedingungen der deutschen Besatzungsherrschaft fortzuführen versuchten.
In Abgrenzung von Darstellungen, welche die wissenschaftlichen Aktivitäten des polnischen 'Untergrunds' als primär von politischen Motiven determiniert betrachten, stellt Cain die wissenschaftliche Praxis an sich sowie die Persona, also das wissenschaftliche Selbst der Forschenden und dessen Aufrechterhaltung unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, ins Zentrum seiner Arbeit. Diese praxeologische Ausrichtung der Studie folgt nicht nur einem wissenschaftshistorischen Trend, sondern bezieht ihre Plausibilität aus dem Gegenstand selbst: Angesichts des langfristigen Ziels der deutschen Besatzer, die polnische Nation ihrer kulturellen und auch wissenschaftlichen Eigenständigkeit zu berauben, und praktischer Maßnahmen wie der Schließung von Forschungseinrichtungen sowie der Verfolgung von Angehörigen des akademischen Milieus liegen die Fragen auf der Hand, wie unter solchen Umständen wissenschaftliches Arbeiten möglich war und wie es sich konkret ausgestaltete. Mit seinem Fokus auf alltäglichen Praktiken gelingt es Cain, ein komplexeres Bild von der polnischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung zu zeichnen, als es die binäre Unterscheidung von Kollaboration und Widerstand zulässt: So wie die Besatzer in vielen Fällen ihre ideologischen Fernziele hintanstellten, da sie zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft auf das Wissen lokaler Expertinnen und Experten angewiesen waren, ließen sich Angehörige des polnischen 'Untergrunds' teils in Institutionen und Projekte der Besatzungsherrschaft einbinden, generierten dadurch aber zugleich Freiräume für klandestine Aktivitäten.
Um diese Ambiguitäten konzeptionell zu fassen, bedient sich Cain unter anderem der Begriffe des "Lebens als ob", der "Grauzone" und der "Schwelleninstitutionen", die er schwerpunktmäßig in jeweils einem Teil seiner Arbeit fruchtbar macht. Im ersten Teil analysiert er die Schreibpraxis polnischer Soziologinnen und Soziologen unter deutscher Besatzung, wobei er sich vor allem auf den Warschauer Forscher Stanisław Ossowski konzentriert. Wie Cain nachzeichnet, verwendete Ossowski den Begriff des "Lebens als ob" noch nicht, um eine heroische Verweigerungshaltung des polnischen Widerstands zu beschreiben. Vielmehr habe Ossowski eine "Dopplung normativer Bezugssysteme" (103) im Spannungsfeld zwischen den Geboten der Besatzer und denen des Untergrunds auf den Punkt zu bringen versucht, deren Folgen für die moralische Ordnung der Nachkriegszeit er mit Sorge betrachtete. Cains Rekonstruktion der Bemühungen Ossowskis, durch Praktiken des Schreibens, insbesondere des Exzerpierens, in einer Situation maximaler Kontingenzerfahrung das eigene wissenschaftliche Selbst zu stabilisieren, wirft ein interessantes Licht auf Möglichkeiten und Grenzen von Sozialwissenschaft im Ausnahmezustand. Allerdings lassen es die starke Fokussierung auf eine Person und die Konzentration auf mitunter kleinste Details der Schreibpraxis fraglich erscheinen, inwiefern die Schlussfolgerungen generalisierbar sind.
Zu den aufschlussreichsten Teilen der Studie gehört der zweite Abschnitt, der die medizinische Forschung im besetzten Polen zum Gegenstand hat. Das Konzept der "Grauzone", mit dem Primo Levi und daran anschließend Giorgio Agamben das Phänomen bezeichneten, dass in deutschen Konzentrationslagern angesichts der existentiellen Not der Häftlinge moralische Ordnungen neu verhandelt werden mussten und auch die Grenze zwischen Tätern und Opfern - etwa durch die Beteiligung von Häftlingen am Vernichtungsprozess im Rahmen sogenannter Sonderkommandos - verschwimmen konnte, überträgt Cain hier auf die Gesellschaft des Generalgouvernements außerhalb der Lager. Als in einer medizinischen "Grauzone" angesiedelt beschreibt er zum einen Forschungen zur Produktion eines Impfstoffs gegen das Fleckfieber, die von den deutschen Besatzern mangels eigener Expertise und aus Furcht vor unkontrollierter Seuchenausbreitung zugelassen wurden, zum anderen Studien jüdischer Ärztinnen und Ärzte zur Hungerkrankheit im Warschauer Ghetto. Insbesondere im letzteren Fall wird das moralische Dilemma der Medizinerinnen und Mediziner deutlich, die dem Sterben der Ghettobevölkerung durch ihre Forschungen einen wissenschaftlichen Sinn zu geben versuchten, zugleich aber in dem Bewusstsein handelten, den Verhungernden nicht helfen zu können, und sich aufgrund von Kontakten zu deutschen Behörden mitunter gar Vorwürfen der Kollaboration ausgesetzt sahen (301). Über diesen konkreten Fall hinaus stellen die spezifischen Erfahrungen jüdischer Forschender einen Aspekt dar, über den man - auch vor dem Hintergrund der Kontroversen über das polnisch-jüdische Verhältnis unter deutscher Besatzung - gern noch mehr erfahren hätte.
Den dritten Teil der Studie bildet eine Analyse physikalischer Forschungen. Diese hätten sich unter anderem aufgrund der Erforderlichkeit spezieller Gerätschaften hauptsächlich in "Schwelleninstitutionen" vollzogen, in denen polnische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit deutschen offiziellen Stellen zusammenarbeiteten. Auch wenn die Mitarbeit in solchen Institutionen eigentlich gegen die Werteordnung des Untergrunds verstieß, mit dem viele polnische Forschende in Kontakt standen, habe sie auch klandestine Aktivitäten wie beispielsweise geheime Lehrveranstaltungen ermöglicht.
Insgesamt macht es der detailreiche und mäandernde Schreibstil des Verfassers nicht immer einfach, beim Lesen die übergeordneten Fragestellungen und Thesen im Blick zu behalten. Eine stärkere Einordnung der Befunde in bestehende Forschungsdebatten, etwa zur Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten auf der Skala vom offenen Widerstand bis zur bereitwilligen Kollaboration oder auch allgemeiner zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft in Ostmitteleuropa, zulasten der bisweilen sehr ausführlichen Darstellung einzelner Schreibakte und Versuchsanordnungen hätte in dieser Hinsicht mehr Orientierung geboten. Mit ihrer Kombination aus akribischer empirischer Forschung und hohem theoretischen Reflexionsgrad leistet Cains Studie dennoch einen herausragenden Beitrag zur europäischen Wissenschaftsgeschichte und zu einem differenzierten Bild der polnischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung.
Anmerkung:
[1] Vgl. Jan Surman: Universities in Imperial Austria 1848-1918. A Social History of a Multilingual Space, West Lafayette 2018; Katrin Steffen: Blut und Metall. Die transnationalen Wissensräume von Ludwik Hirszfeld und Jan Czochralski im 20. Jahrhundert, Göttingen 2021; Alexej Lochmatow: Public Knowledge in Cold War Poland. Scholarly Battles and the Clash of Virtues, 1945-1956, London 2023.
Friedrich Cain: Wissen im Untergrund. Praxis und Politik klandestiner Forschung im besetzten Polen (1939-1945) (= Historische Wissensforschung; 14), Tübingen: Mohr Siebeck 2021, X + 534 S., ISBN 978-3-16-158905-8, EUR 84,00
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