Florian Völker formuliert in seinem innovativen Werk den Anspruch, die erste Gesamtübersicht über das von ihm identifizierte Genre Kälte-Pop zu bieten. Sein auf einer Potsdamer Dissertationsschrift beruhendes Buch reiht sich in die zeithistorische Popgeschichtsforschung ein und stellt das Phänomen in den bundesrepublikanischen sowie in den internationalen Kontext der 1970er und 1980er Jahre. Kälte-Pop meint hier nicht allein ein spezifisches Sub-Genre von Popmusik, sondern vielmehr ein "System von Motiven, Codes und Strategien, das auf textueller, performativer und klanglicher Ebene all jene Zeichen der (Post-)Moderne affirmierte und ästhetisierte, die [...] als negative bis bedrohliche Aspekte einer 'kalten' Welt galten" (1).
Künstlerinnen und Künstler, die sich dieses Systems bedienen, ordnet Völker der Bewegung der 78er zu, die zwar aus der linken Gegenkultur kamen, aber die "von 'Hippies' und deren Punk-Erb:innen geteilten Ideale, Forderungen und Zeichen" in einem radikalen Bruch in Frage stellten (225). Damit liefert der Berliner Historiker gewissermaßen die Nachgeschichte des von Sven Reichardt analysierten Wärme-Kultes im Alternativen Milieu der 1970er Jahre [1]. Für seine Untersuchung schöpft der Autor aus einem breiten Quellenfundus, der neben der Popmusik selbst auch die zeitgenössische Diskussion analysiert, insbesondere Rezensionen in Musikzeitschriften, die als "Szenemacher" große "Diskursmacht" entfalteten, und das Phänomen bereits zeitgenössisch kontrovers debattierten (208).
Dem Entstehungskontext für die sogenannte Kälte-Welle, deren Zeitraum Völker auf die Spanne zwischen 1977 und 1982 datiert, widmet er ein eigenes Kapitel. Darin zieht er eine Kontinuitätslinie von den avantgardistischen Strömungen der Weimarer Republik (insbesondere der Neuen Sachlichkeit) zur Neuen Deutschen Welle. Nach Einschätzung des Autors handelte es sich dabei nicht um eine reine Übernahme dessen, was der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen als "Ästhetik der Kälte" bezeichnet hat [2], sondern um einen Rückgriff, der nur einzelne Elemente wiederbelebte und im zeitgenössischen Kontext aktualisierte. So wurde "die futuristisch-neusachliche Material-Ästhetik um die Stoffe Beton und Plastik und das Bild der emotionsbefreiten Mensch-Maschine um das Stereotyp des 'kalten Deutschen'" erweitert (115). Schließlich zeigt der Autor auf, wie Kälte-Pop auch auf andere Genres wie den Krautrock der 1970er Jahre rekurrierte: Hier ist insbesondere die "transnationale [...] Verwobenheit" (134) interessant, die den Erfolg deutschsprachiger Musik durch deren begeisterte Rezeption im anglophonen Raum überhaupt erst begründete. Somit bildete das Deutsche "nicht nur den ästhetischen, sprachlichen, und zumeist auch identitätsbildenden Kern für die verschiedenen NDW-Szenen, sondern zugleich den Rahmen für 'Kälte-Pop'." (186)
Nach der ausführlichen Beschreibung der musikhistorischen Entwicklung widmet sich das dritte Kapitel Motiven und Strategien des Kälte-Pop. Anhand bestimmter Bands werden verschiedene Kälte-Typen aufgefächert und typologisiert. Die klare Stärke des Buches basiert auf der multiperspektivischen Analyse verschiedener Ebenen: des Sounds selbst, der Kälte durch den Einsatz elektronischer Musik produzierte; der visual history von Albumcovern sowie einer Körpergeschichte der Performanz von Live-Auftritten und Musik-Videos, die durch Distanz zum Publikum Kälte herstellen. Der Hauptfokus liegt hier auf der "Vorreiterrolle" (252) der Band Kraftwerk, die mit ihrem konzeptuellen Auftreten als "Mensch-Maschinen-Kollektiv" (282) und der Etablierung des neu entwickelten Synthesizers nicht nur die Kälte-Welle einleiteten, sondern das Kalte zu einem "Teil der Popkultur" (320) machten. Ein weiteres Unterkapitel behandelt eine Spielart von Kälte, die im Genre Dark Wave eine "schwarze Entfremdungsromantik" kreierte (358).
Das zeigt auf, wie vielfältig das Kälte-Phänomen ist, da es nicht bloß ein "Ja zur technologisierten Welt" (258) beinhaltete, sondern auch auf affektiver Ebene vollzogen wurde. Die Vielschichtigkeit wird ebenso anhand der Band Einstürzende Neubauten sichtbar. Gleichzeitig macht der Autor deutlich, inwiefern die geografische Verortung der Bands ihre konzeptuelle Ausrichtung prägte, in diesem Fall mittels der "kalten Hitze" einer spezifisch West-Berliner Untergangsästhetik, die den Kalten Krieg reflektierte (395). Die Analyse der Band Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF), die wiederum eine "Kombination 'heißer' wie 'kalter' Motive" (430) darbot, fokussiert auf deren Körperlichkeit. Mit dieser Band wird ebenso das Spiel mit totalitärer Symbolik und Ästhetik relevant, das entlang der Pole "Provokation und Faszination" (460) verläuft. Diese Problematik wird an mehreren Stellen aufgegriffen und in einem Unterkapitel gesondert behandelt, dem eine differenzierte Diskussion in Rekurs auf andere Genres, wie etwa Punk, gelingt.
Das letzte Kapitel thematisiert die nachhaltigen Einflüsse der Kälte-Welle auf weitere Pop-Acts über ihr Abebben um 1982 hinaus. Insbesondere die slowenische Band Laibach mit ihren "Strategien der De-Individualisierung, Entemotionalisierung, Kommunikationsverweigerung sowie Verunsicherung" wird als ästhetische Erbin benannt (541). Auch die aktuell international erfolgreichste deutsche Band Rammstein, die wie kaum eine andere die "'Naturalisierung' zwischen 'dem Deutschen' und 'dem Bösen'" (194) verkörpert, rekurriert auf die um 1980 neu ausdifferenzierte Kälte-Ästhetik. Die überzeugende Identifizierung verschiedener Kälte-Strategien zeigt das große Potenzial dieses Konzepts auf, das als analytisches Instrument eine neue Perspektive auf die in den Popular Music Studies mehrfach festgestellte Kontinuitätslinie zwischen Kraftwerk, Laibach und Rammstein bietet. Dass diese Perspektive nicht nur für deutsche Bands funktioniert, zeigt die Betrachtung der Kälte-Motive im Black Metal.
Insofern wird, wer sich wissenschaftlich mit populärer Ästhetik in den 1980er Jahren befasst, nicht um diese Monografie herumkommen, die Inspiration für weiterführende Untersuchungen sein wird. Interessant wäre beispielsweise die Frage danach, wie die Verwendung von Musik aus der Kälte-Welle in der aktuellen 1980er-Jahre-Nostalgie-Welle einzuordnen ist. Einziger Wermutstropfen ist die Weitschweifigkeit des Buches, das auf 666 Seiten besonders im zweiten und dritten Kapitel zu Wiederholungen führt. Eine konzisere Strukturierung wäre wünschenswert gewesen. Dessen ungeachtet ist dem Konzept Kälte-Pop eine breite, auch internationale Rezeption zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.
[2] Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994.
Florian Völker: Kälte-Pop. Die Geschichte des erfolgreichsten deutschen Popmusik-Exports, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, VI + 666 S., 47 Farb-, 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-124515-7, EUR 34,95
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