Pia Schmüser untersucht in ihrer Dissertation die Lebenslagen von Familien mit behinderten Kindern in der SBZ und DDR bis 1990. Ihr Anliegen ist es, den Alltag dieser sichtbar zu machen und darüber hinaus zu übergreifenden Aussagen zu gelangen. Lebenslagen, die Familien mit Kindern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Behinderungsformen miteinander teilten, waren beispielsweise Fragen der Unterbringung, der häuslichen Pflege und Betreuung, der Schulbildung, der beruflichen Rehabilitation, aber auch Fragen von Erholung und Freizeit, von Eigenorganisation und -repräsentation der Familien. Einzelne Aspekte haben in der Forschung bereits Aufmerksamkeit gefunden, aber Schmüser bezeichnet ihr Thema zu Recht als Forschungsdesiderat. Weder sind staatliches Handeln und Fachdiskurse im Hinblick auf diese Bevölkerungsgruppe ausreichend untersucht worden noch die Sichtweisen und das Handeln der Betroffenen selbst. Gerade die Rekonstruktion ihrer Perspektive ist eine Herausforderung - haben sie doch in der Regel wenige Quellen hinterlassen. Schmüser stützt sich auf Eingaben betroffener Eltern an den SED-Staat und rekonstruiert Vorgänge als "Fallbeispiele", die ihrer Ansicht nach exemplarisch für weitere Fälle stehen.
Dabei kommt sie zu neuen Erkenntnissen, so beispielsweise, dass sich Eltern behinderter Kinder zunehmend als Experten für die Belange ihrer Familie verstanden. Sie vernetzten sich zudem stärker mit anderen Betroffenen, beispielsweise in konfessionellen Räumen. Unter dem Dach der Kirche initiierten junge Menschen mit Behinderungen auch eigene Wohnexperimente. Eltern behinderter Kinder gründeten Gruppen, in denen sie sich austauschten und gemeinsam Eingaben an den Staat richteten, auch wenn dieser Zusammenschluss mit einer Überwachung durch die Staatssicherheit einhergehen konnte. Die Stärken der Arbeit liegen vor allem in der gelungenen Rekonstruktion der Eigenorganisation und -repräsentation von Eltern behinderter Kinder, die sich aufgrund staatlichen Versagens zusammenschlossen, zunehmend deutlicher Unterstützung forderten und in einigen Bereichen eigene Initiativen entwickelten.
Schmüser zeigt darüber hinaus, dass das SED-Regime über vierzig Jahre nicht bereit war, Mängel zu beseitigen und behinderten Menschen zu einem möglichst selbstbestimmten Leben zu verhelfen. Sofern sie in den Arbeitsprozess eingegliedert werden konnten, hatte das SED-Regime kaum Interesse an diesem Personenkreis und verlagerte die Betreuung und Pflege behinderter Kinder in die Kirchen und auch in die Familien. Insofern war die Rehabilitation behinderter Kinder in der DDR im Anschluss an den Titel der Arbeit "essentiell auch eine Rehabilitation durch die Familie". (428) Dabei waren insbesondere Mütter behinderter Kinder während des gesamten Untersuchungszeitraums einer massiven Mehrfachbelastung ausgesetzt.
Im Zeitverlauf sieht Schmüser einen Wandel, der Ende der 1960er Jahren einsetzte und nach einer kurzen "Scharnierphase" in der Ära Honecker in eine "neue Dimension" hinsichtlich "der Rehabilitations- und Integrationspolitik und -rhetorik" (436) mündete. Trotzdem lassen sich ihrer Ansicht nach im Untersuchungszeitraum wesentliche Kontinuitäten konstatieren. So beispielsweise, dass "die Konzepte von Bildungs- und Förderungs(un)fähigkeit [...] eine folgenreiche konzeptuelle und praktische Demarkationslinie" blieben, die letztlich "zu einer besonderen Benachteiligung von geistig, psychisch oder mehrfach behinderten Kindern" führte (435).
Die Autorin kommt ferner zu dem Schluss, dass die Rahmenbedingungen - die sozialistische Diktatur und die Planwirtschaft - die Ursache dafür waren, dass sich an den Problemlagen von Familien mit behinderten Kindern über den gesamten Zeitraum der DDR insgesamt wenig änderte. Das ist eine wichtige Feststellung, letztlich werden diese Problemlagen an sich aber nicht systematisch untersucht. Im Fokus stehen der familiäre Umgang damit und die Kommunikation darüber. Das gilt beispielsweise für die Unterbringung behinderter Kinder in Einrichtungen: Die Problematiken dieser Einrichtungen, wie Personalmangel, sanitäre Probleme, aber auch der Umgang mit den Kindern, werden von Schmüser zwar immer wieder angesprochen, aber nicht weiter ausgeführt. Aus den zitierten Quellen geht hingegen die Lebenssituation der Kinder in erschreckender Weise hervor, etwa, wenn von Fixierungen, Sedierungen, Misshandlungen oder von Entwicklungsrückständen die Rede ist. Im Vordergrund der Analyse stehen aber weniger die Missstände an sich als die Kommunikation darüber. Viele der Eingaben zeigen die Verzweiflung der Eltern über die Lebensumstände ihrer Kinder und ihrer Familien, zu denen weitere und detaillierte Analysen notwendig sind, will man zu einem umfassenden Bild darüber kommen, wie es Familien mit behinderten Kindern in der DDR tatsächlich ging. Einen ersten wichtigen Schritt hat Pia Schmüser mit ihrer lesenswerten Arbeit getan, die insgesamt interessante neue Erkenntnisse liefert und einen guten Überblick über unterschiedliche Aspekte des Lebens von Familien mit behinderten Kindern darstellt.
Pia Schmüser: Familiäre Rehabilitation? Eine Alltagsgeschichte ostdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945-1990) (= Disability History; Bd. 11), Frankfurt/M.: Campus 2023, 498 S., ISBN 978-3-593-51674-5, EUR 49,00
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