Angesichts ausufernder Diskussionen heißt es oft zynisch, dass zwar schon alles zum vorliegenden Thema gesagt worden sei, "aber noch nicht von jedem". Was aber, wenn man es selbst ist, der alles schon gesagt zu haben scheint? Vor genau diesem Problem steht Heinrich August Winkler, wenn er sich erneut der deutschen Geschichte widmet. Seine Erzählung über Deutschlands "langen Weg nach Westen" hat mittlerweile klassischen Status erlangt. Für einen frischen Blick braucht es daher einen prägnanten neuen Ansatzpunkt. Im vorliegenden Band "Die Deutschen und die Revolution" findet Winkler diesen in der Auseinandersetzung mit der von Rudolf Stadelmann formulierten und dann für die Debatte um den deutschen "Sonderweg" prägenden These vom "Volk ohne Revolution" (18, 131).
Das erste Kapitel basiert auf einer leicht überarbeiteten Fassung eines Vortrags aus dem Jahr 1998, den Winkler anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Revolution von 1848/49 gewidmet hatte. Für den vorliegenden Band fügt der Autor neue Kapitel zur Reichsgründung, zu 1918/19, zum Nationalsozialismus und schließlich zur "friedlichen Revolution" von 1989 hinzu, um dem revolutionären Charakter der deutschen Geschichte nachzuspüren. Der problemgeschichtliche Ansatz des Buchs wird dabei grundsätzlich in zwei Richtungen entwickelt.
Mit Blick auf die häufig als "gescheiterte" Revolutionen erachteten Ereignisse von 1848/49 und 1918/19 geht es Winkler in erster Linie darum, die gängige Vorstellung vom allzu zaghaften, halbherzigen Auftreten der Liberalen beziehungsweise der Mehrheitssozialdemokraten zu hinterfragen. In beiden Fällen wirft der Autor dabei unter anderem die Frage auf, welche Konsequenzen eine 'entschiedene' Durchsetzung revolutionärer Ziele im jeweiligen Kontext konkret gehabt hätte.
Hätten sich die Demokraten nach dem Malmöer Waffenstillstand 1848 durchgesetzt mit ihrem Wunsch, den Krieg gegen Dänemark fortzusetzen, so wäre laut Winkler ein Einschreiten Russlands unvermeidbar gewesen. Damit wäre es zu genau dem europäischen Volkskrieg gekommen, den zu führen die radikale Linke nicht nur bereit war. Sie sehnte ihn vielmehr begeistert herbei, sofern er ihr - in den Worten des Abgeordneten Carl Vogt - als "heiliger Krieg der Kultur des Westens gegen die Barbarei des Ostens" (29) erschien. Während Karl Marx erwartete, dass ein derartiger Volkskrieg den Auftakt zur proletarischen Weltrevolution darstellen würde, wäre eine solche "Desperadopolitik" (30) der Linken aus Winklers Sicht wohl eher in einen noch sehr viel blutigeren und radikaleren Sieg der Gegenrevolution gemündet.
Die Deutung zu 1918/19 läuft in weiten Teilen parallel: Radikale Stimmen wie Rosa Luxemburg, die den Bürgerkrieg für unvermeidbar hielt, verkannten in Winklers Augen die Kraft des "nationalen Urtraumas des Dreißigjährigen Krieges" (71). Seine Sympathie liegt dagegen bei gemäßigteren Zeitgenossen wie Eduard Bernstein, der die revolutionäre Ära angesichts wirtschaftlicher und politischer Modernisierung als beendet betrachtete (64). Den "Traum von der versäumten Chance der Linken", durch eine proletarische Einheitsfront von Sozialdemokraten und Kommunisten einen radikalen Umsturz herbeizuführen, erklärt Winkler zu einem "Ausfluss von Wunschdenken" (83).
Während die Deutung in diesen beiden Kapiteln also auf eine Apologie der Mäßigung hinausläuft, ist die Argumentation in den anderen drei Kapiteln ganz anders gelagert. Denn hier geht es erst einmal darum, den revolutionären Gehalt von Episoden zu ermitteln, die nach gängigen Definitionen meist gerade nicht als 'Revolution(en)' gelten.
Dass die Reichsgründung und die Konstitutionsphase des Kaiserreichs als "Revolution von oben" betrachtet werden können und schon von Zeitgenossen wie Friedrich Engels und Benjamin Disraeli so verstanden wurden, ist bekannt. Auch die sogenannte "friedliche Revolution" von 1989 kann, wenn man den Begriff an bestimmten Stellen etwas aufweicht, wohl doch zur Revolutionsgeschichte gerechnet werden, wobei Winkler selbst zwar einerseits von einer "übernationalen revolutionären Welle" spricht, für den deutschen Fall aber nur den Zeitabschnitt bis zum 18. März 1990 als revolutionär gelten lässt, nach dem eine evolutionäre Phase eingesetzt habe (121, 125).
Deutlich kontroverser wird es allerdings im Falle der nationalsozialistischen "Revolution von rechts" - ein Zitat des Soziologen Hans Freyer aus dem Jahr 1931, das Winkler in seiner Kapitelüberschrift mit einem Fragezeichen versieht. Sich bei dieser Deutung nur auf das 'revolutionäre' Selbstverständnis der Nationalsozialisten zu beziehen, hätte einen faden Beigeschmack gehabt. Aber auch aus analytischer Sicht lassen sich im Nationalsozialismus durchaus revolutionäre Aspekte ausmachen. Zwar hält Winkler die ältere, unter anderem von Ralf Dahrendorf vertretene These von einer egalitaristischen Sozialrevolution im Lichte der sogenannten 'Volksgemeinschaft' für überholt. Doch habe die nationalsozialistische Herrschaft als "Gegenrevolution gegen das normative Projekt des Westens, die nur mit revolutionären Mitteln durchzusetzen war" (102), in der Tat eine revolutionäre Dynamik entwickelt.
"Die Deutschen und die Revolution" ist selbst alles andere als eine revolutionäre Streitschrift. Auch eine stringente Revolutionstheorie sucht man vergeblich. Stattdessen führt Winkler im souveränen Duktus des Emeritus durch die Geschichte, mäandernd zwischen weiten Panoramen und pointierten Thesen. In seiner vielschichtigen Polysemie bietet der Revolutionsbegriff hier Anlass für ein reiches Spektrum an spannenden Fragen und Beobachtungen zur deutschen Nationalgeschichte, von dem Leserinnen und Leser, die mit Winklers weiterem Werk schon bekannt sind, ebenso profitieren werden wie neue. Einen wirklich neuen roten Faden bietet der Begriff so aber nicht.
Heinrich August Winkler: Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989, München: C.H.Beck 2023, 176 S., ISBN 978-3-406-80539-4, EUR 24,00
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