In Debatten, Forschungsprojekten und Publikationen zu den politischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten der ostdeutschen Bundesländer wird zunehmend auch die prägende Rolle der Nachwendezeit thematisiert. Und darin wiederum nimmt die Deindustrialisierung und die Arbeit der Treuhandanstalt einen besonders bedeutsamen Platz ein. Nach Übersichtsarbeiten wie der von Marcus Böick [1] legt Christian Rau, Historiker am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, nun eine detaillierte Studie zu dem vielleicht prominentesten Fall der Abwicklung ostdeutscher Industrie vor: der Schließung des Kaliwerks Bischofferode im Thüringer Eichsfeld.
Raus erklärte Absicht ist es, gerade angesichts der emotional und politisch hoch aufgeladenen Debatten und einseitigen Narrative um Bischofferode, die historischen Prozesse rund um die Schließung des Schachts und die Proteste dagegen "mit einer nüchternen Distanz" (18) darzustellen. Gelungen ist ihm auf jeden Fall eine detaillierte historische Analyse der Vorgänge in all ihrer Komplexität, die in künftigen Beschäftigungen mit dem Thema nicht ignoriert werden kann. Er zeichnet die Abläufe im Werk, in der Bundes- und Thüringer Landespolitik, in der Treuhandanstalt, den Gewerkschaften, den Parteien und der Industrie gut belegt nach und bindet sie in die längeren Prozesse der Krisen der Kaliwirtschaft, der Kalipolitik in DDR und BRD, der Protest- und Solidarisierungsdynamiken sowie der Demokratisierung und ostdeutschen Zustände ein.
Hervorzuheben ist, dass Rau die Geschichte der Transformationsproteste in Bischofferode als "Interaktionsprozess von ost- und westdeutschen Akteuren" (10) untersucht. Er legt sein Augenmerk dabei auf die "kleinen Transformationen" (19) im Handeln konkreter Akteure in all ihrer Heterogenität und Vieldeutigkeit ihrer Motivationen und Praktiken. Dafür hat Rau interessante Quellen gehoben, zum Beispiel das Dienst-Tagebuch des für die Kalibetriebe zuständigen Treuhand-Direktors Klaus Schucht.
Im ersten Teil des Buches beschreibt Rau die größeren Kontexte der etablierten Kooperation von Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften in der westdeutschen Kaliindustrie, der wahrgenommenen Kalikrise, der schon zu DDR-Zeiten relevant gewordenen Umweltprobleme durch die Kaliproduktion und die in der DDR lange vernachlässigte Pflege der Betriebssubstanz ein. Er belegt, wie die Treuhandanstalt die Leitungsebene der Mitteldeutschen Kali AG (MDK) mit Kadern in Verbindung zur westdeutschen Kali+Salz AG besetzte, was die Übernahme ostdeutscher Kalibetriebe durch internationale Investoren zu verhindern half, aber auch die Grundlage für ostdeutsches Misstrauen legte: "Vermeintlich ostdeutsche Seilschaften wurden somit durch westdeutsche Unternehmensnetzwerke ersetzt" (54). Die Fusion der Kali+Salz mit der MDK beschreibt Rau als "ein gigantisches Strukturprogramm für die gesamte deutsche Kaliindustrie" (70) im Rahmen "eines globalen und europäischen Neuordnungsprozesses" (226), in dessen Zug Werke in Ost wie West geschlossen wurden. Leider konnte auch Rau anhand der Aktenlage die Vorgänge um die Ruinierung des Unternehmers Johannes Peine nicht aufklären. Dieser wollte das Kaliwerk damals übernehmen, fiel jedoch dafür aus, weil ihm seine Banken plötzlich alle Kredite kündigten - eine "Einflussnahme durch die Treuhand [...] scheint naheliegend", ließ sich aber (noch?) nicht belegen (176).
Ein interessanter Beitrag zur Komplexität und Ambivalenz der Prozesse ist Raus Diskussion der Umstrittenheit des Bergbaus im Eichsfeld. So war der recht junge Kaliabbau von Beginn an nicht bei allen ein selbstverständlicher Teil der Identität der Region. Eher traditionelle Heimatkonzepte wurden dabei in den letzten Jahren der DDR von Umweltschutzargumenten ergänzt. Interessant ist auch sein Verweis auf die "Kontinuitäten zur informellen Protestkultur" in der DDR, die eine Ausbreitung des Arbeitskampfes auf den ganzen Osten verhinderte: "Jeder Betrieb streikte für sich allein" (89).
In seinem Hauptkapitel untersucht Rau die Ereignisse und medialen Dynamiken rund um den Hungerstreik der Kalikumpel. Er beschreibt, wie die BASF die Proteste nutzte, der Treuhand in den Fusionsverhandlungen immer neue Bedingungen zu diktieren, und wie die von der Polizei eskalierten gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um die Protestdemos vor der Treuhandzentrale am 17.5.1993 zum Legitimitätsverlust der Proteste in der nicht-linken Presse führte. Nach Rau führt die Gewalt vom 17.5. auch zu einem Wandel der Bischofferöder Protestkultur, die schließlich in den Hungerstreik mündete. Es überzeugt zwar nicht, wie Rau diesen als eine Protestform "der radikalen Linken" (136) einordnet, aber mit dem Hungerstreik wurden die Proteste in der Öffentlichkeit rehabilitiert: "Die Nation hörte nun nicht mehr den Managern, sondern den Kumpeln zu" (141). Die Kritiker des Protests sahen im Streik dagegen einen "politischen Ausnahmezustand", der "mit dem Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaats nur schwer vereinbar sei" (142). Mit dieser Begründung gingen etwa die thüringische Landesregierung und Teile der Gewerkschaften auf Distanz. In letzteren manifestierte sich darin aber ein Konflikt zwischen Vorständen und Basis: wo die einen den etablierten Korporatismus in Gefahr sahen, erhofften sich die anderen ein Ende der "drohende[n] Selbstentmachtung [...] durch eine basisferne und intransparente Verhandlungskultur" (163). Leider zieht Rau keine analytischen Konsequenzen aus der bemerkenswerten, an dieser Stelle zum Beispiel von der IG Metall postulierten kategorischen Trennung zwischen "gewerkschaftliche[n] und politische[n] Handlungsperspektiven" (168).
Auch wird Rau seinem Anspruch, sich narrativen Vereinseitigungen zu enthalten, nicht immer ganz gerecht. Problematisch und unbelegt bleibt etwa die wiederholte Andeutung eines Zusammenhangs zwischen dem Protest von Bischofferode und dem Erfolg radikal rechter Bewegungen von Pegida bis AfD in Ostdeutschland: Der verlorene Kampf um den Schacht sei zum Sinnbild der Erzählung der "Übernahme" des Ostens durch den Westen geworden (14, siehe auch 219ff.). Oder die Tatsache, dass der Bischofferöder Arbeitskampf für viele zum "Signal des Aufbruchs" wurde, sei nicht ohne die radikal rechten Gewaltausbrüche der 1990er zu verstehen (13). Dass die AfD rhetorisch an "ostdeutsche Unterlegenheitsgefühle" anschließt (245), bedeutet ja nicht, dass diese Rhetorik den historischen Fakten entspricht. Es wirkt an diesen Stellen so, als versuche Rau, der "Geschichte vom heldenhaften Widerstand" ein vermeintliches "dunkle[s] Erbe des ostdeutschen Aufbegehrens" entgegen zu stellen (14f.). An wenigen Stellen scheint auch die "nüchterne Distanz" nicht durchgehalten, etwa in der unhinterfragten Verwendung des politischen Begriffs "soziale Marktwirtschaft" (17) oder wenn starke Behauptungen wie: eine "radikale" Sprache habe die Proteste begleitet, nur durch Belege mit fraglicher Relevanz, wie einem einzelnen Leserbrief in der Lokalzeitung, untermauert werden (117, ähnlich 128).
Dennoch ist Raus Buch zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Arbeitskampfes in Bischofferode, einem "erinnerungspolitischen Nicht-Ort in der demokratischen Gesellschaft" (244), aber auch zur Protestkultur der Nachwendezeit. Denn diese ermöglichte gerade in Ostdeutschland einen "Zugang zur Politik" und damit "Demokratisierungsprozesse" jenseits der bloßen Parteipolitik und etablierten Institutionen (189), und Ostdeutsche waren darin nicht nur Opfer und Verlierer*innen, sondern auch "Handelnde in einem komplexen politischen Beziehungsgeflecht" (246).
Anmerkung:
[1] Marcus Böick: Die Treuhand. Idee - Praxis - Erfahrung 1990-1994, Göttingen 2018.
Christian Rau: Hungern für Bischofferode. Protest und Politik in der ostdeutschen Transformation, Frankfurt/M.: Campus 2023, 273 S., ISBN 978-3-593-51728-5, EUR 29,00
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