sehepunkte 24 (2024), Nr. 12

Thibaut Castelli / Christel Müller (éds.): De Mithridate VI à Arrien de Nicomédie

Der vorliegende Sammelband widmet sich einer entscheidenden Epoche in der Geschichte der Schwarzmeerregion, nämlich dem Zeitraum zwischen dem 1. Jahrhundert v.Chr. und dem 1. Jahrhundert n.Chr., und untersucht die tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen dieser Zeit. Die thematische Breite und der interdisziplinäre Ansatz spiegeln aktuelle Tendenzen in der Geschichtswissenschaft wider, den Übergang von der hellenistischen zur römischen Welt nicht nur als Bruch, sondern auch als Phase anhaltender Kontinuitäten und gradueller Veränderungen zu betrachten. Darüber hinaus unterstreichen die Qualität der Karten und Abbildungen, die nützlichen Register sowie die Zusammenfassungen in französischer und englischer Sprache den hohen wissenschaftlichen Standard des Werkes.

Einleitend formulieren die Herausgeber zentrale Forschungsfragen zu Brüchen und Kontinuitäten, erläutern das methodische Vorgehen und diskutieren den aktuellen Forschungsstand. Die folgenden 13 Beiträge verbinden numismatische, archäologische, epigraphische und historische Ansätze, um den Schwarzmeerraum nicht isoliert, sondern als dynamisches Bindeglied zwischen verschiedenen Kultur- und Wirtschaftszentren zu analysieren. Die thematische Gliederung entlang der geographischen Ausdehnung der Schwarzmeerküste von Westen nach Norden ermöglicht eine differenzierte Betrachtung regionaler Dynamiken. Zu den Höhepunkten zählen etwa François de Callataÿs numismatische Analysen, die die Anpassung städtischer Strukturen im Pontos an die römische Präsenz beleuchten, oder Andrei Opaițs Untersuchung amphorischer Funde, die die beginnende wirtschaftliche Verflechtung zwischen Mittelmeer- und Schwarzmeerraum dokumentieren. Auch Claire Barats Studie über die Integration der südlichen Schwarzmeerküste in die römische Verwaltung und Hans-Joachim Gehrkes Analyse der geopolitischen Rolle der Halbinsel Taman liefern wertvolle Einblicke in makrohistorische Entwicklungen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Diskussion der militärischen und administrativen Strategien von Mithridates VI. bis zur römischen Verwaltung. Diese strategische Kontinuität unterstreicht, wie die Region von einem Kriegsgebiet im 1. Jahrhundert v.Chr. zu einem integralen Bestandteil des römischen Machtgefüges wurde. Der Sammelband befasst sich auch mit der Herausforderung, die wirtschaftliche Dynamik der Region zu erfassen, einschließlich der Rolle der lokalen Produktion und der Auswirkungen der römischen Steuer- und Handelsstrukturen.

Trotz dieser Stärken bleiben zentrale Fragen unzureichend bearbeitet. Die Entwicklung städtischer Eliten und institutioneller Strukturen im Schwarzmeerraum in Abhängigkeit vom römischen Einfluss ist bestenfalls fragmentarisch analysiert. Ein Gesamtbild, das die Wechselwirkungen zwischen lokalen "Honoratioren" und römischer Oberherrschaft systematisch beleuchtet, fehlt. Auch bei spezifischen Fallstudien wie Callatis oder Histria überzeugen die Ergebnisse nur bedingt, da eine kohärente Darstellung ihrer institutionellen Entwicklung in diesem Zeitraum fehlt. Ein gravierender Mangel des Bandes ist das weitgehende Fehlen zweier wichtiger Städte: Chersonesos Taurica und Tyras. Beide spielten eine zentrale Rolle in den Beziehungen zwischen dem Schwarzmeerraum und Rom im 1. Jahrhundert n.Chr. und hätten daher eine eingehendere Untersuchung verdient. Auch das Bosporanische Reich, das als einer der wichtigsten Klientelstaaten des Römischen Reiches gilt, wird nur am Rande behandelt. Eine eingehendere Untersuchung seiner politischen und wirtschaftlichen Rolle hätte wesentlich zur Komplexitätsanalyse der Region beigetragen. Die Städte des südlichen Schwarzmeerraumes werden vor allem im Kontext der politischen Geschichte Kleinasiens, des Münzumlaufs und der Handelsbeziehungen erwähnt. Es fehlt jedoch eine überzeugende Synthese ihrer Entwicklung in späthellenistischer und frührömischer Zeit, die ihre Transformation zu urbanen Zentren unter römischem Einfluss greifbarer gemacht hätte.

Ein weiterer möglicher Kritikpunkt könnte darin bestehen, dass sich einige Beiträge stark auf sehr spezifische Aspekte konzentrieren, was in einigen Fällen zu einer gewissen Fragmentierung der Gesamterzählung führt. Diese Fokussierung auf Einzelthemen kann es erschweren, die großen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen vollständig zu erfassen. Zudem bleibt die Frage nach der Kohärenz des behandelten Zeitraums - vom Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr. bis zum 1. Jahrhundert n.Chr. - in vielen Fällen unbeantwortet oder wird nur am Rande gestreift.

Wie François de Callataÿ zu Recht betont (33: "Le diable est dans les détails"), offenbaren die Details oft die zentralen Streitpunkte eines Werkes. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür ist die Diskussion um Olbia nach der Zerstörung durch die Geten. Die These, die Stadt sei mit römischer Hilfe wieder aufgebaut worden, lässt die Angabe von Dion Chrysostomos außer Acht, der Wiederaufbau sei "mit Zustimmung der Skythen" erfolgt. Diese Information (D.Chr. 36.6) deutet darauf hin, dass die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Barbaren aus dem Hinterland, insbesondere ihr Interesse an der Wiederbelebung des Handels mit den Griechen, eine zentrale Rolle spielten. Diese Perspektive erklärt die zunehmende "Barbarisierung" der städtischen Eliten plausibler als die Annahme eines sogenannten "Protektorats" durch Pharzoios und Inismeus. Auch frühere "Protektorate", etwa unter Skyles, führten nicht zu einer vergleichbaren "Barbarisierung" der städtischen Eliten, die epigraphisch nachvollziehbar wäre. Eine differenzierte Analyse der lokalen Machtverhältnisse und ihrer Auswirkungen auf die städtische Gesellschaft hätte hier möglicherweise zu einer besseren Einordnung der komplexen Dynamiken beitragen können. Da der Rahmen dieser Rezension jedoch keine ausführlichere Diskussion zulässt, soll hier nur dieses Beispiel hervorgehoben werden.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Sammelband trotz wertvoller Einzelstudien und seines innovativen Ansatzes in einigen zentralen Bereichen hinter den Erwartungen zurückbleibt. Eine stärkere Fokussierung auf eine kohärente Gesamtschau sowie die Einbeziehung aller relevanten Städte und Klientelstaaten der Region wären wünschenswert gewesen. Dennoch bietet der Band wertvolle Einblicke in die komplexen Transformationsprozesse der Schwarzmeerregion zwischen hellenistischer und römischer Welt und stellt einen wichtigen Beitrag zur Erforschung dieser Epoche dar.

Rezension über:

Thibaut Castelli / Christel Müller (éds.): De Mithridate VI à Arrien de Nicomédie. Changements et continuités dans le bassin de la mer Noire entre le Ier s. a.C. et le Ier s. p.C. (= Ausonius-Éditions - Scripta Antiqua; 166), Pessac: Ausonius Editions 2022, 278 S., ISBN 978-2-35613-526-1, EUR 19,00

Rezension von:
Victor Cojocaru
Institut für Archäologie Iaşi
Empfohlene Zitierweise:
Victor Cojocaru: Rezension von: Thibaut Castelli / Christel Müller (éds.): De Mithridate VI à Arrien de Nicomédie. Changements et continuités dans le bassin de la mer Noire entre le Ier s. a.C. et le Ier s. p.C., Pessac: Ausonius Editions 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 12 [15.12.2024], URL: https://www.sehepunkte.de/2024/12/38547.html


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