sehepunkte 25 (2025), Nr. 4

Tristan Oestermann: Kautschuk und Arbeit in Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft 1880-1913

Studien zur Geschichte des Kautschuks auf dem afrikanischen Kontinent und speziell der Arbeitsorganisation müssen sich zwangsläufig mit dem von Adam Hochschild geprägten Bild der Gräueltaten in Belgisch Kongo auseinandersetzen. [1] Kautschuk und Afrika stehen bei Hochschild sinnbildlich für die dunklen Seiten des Kapitalismus. An kaum einem anderen Ort wurde die gewaltbasierte, systematische Ausbeutung der indigenen Bevölkerung durch imperialistische Mächte so drastisch umgesetzt wie in der belgischen Kolonie. Sklavenähnliche Zwangsarbeit und Raubbau wurden von Verstümmelung und Mord begleitet, um an den Rohstoff zu gelangen. Selbstbewusst setzt sich Tristan Oestermann in seinem Buch mit diesem Narrativ auseinander und versucht, ein differenzierteres Bild herauszuarbeiten. Dazu sollen die Perspektiven der Akteure vor Ort und die Arbeitsbeziehungen zwischen Kolonialisten und Kolonisierten offengelegt werden. Das 757 Seiten starke, auf der Dissertation von Oestermann basierende Werk erreicht dieses Ziel, dies sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, mit Bravour.

Die Gliederung des Buches folgt in vier Hauptkapiteln nahezu chronologisch den verschiedenen zeitlichen Abschnitten der Kautschukökonomie im südlichen Teil der deutschen Kolonie. Der Untersuchungsraum eignet sich mit den verschiedenen Produktions- und Handelsformen von Kautschuk (etwa Trust-Handel, Konzessionsgesellschaften, Plantagengesellschaften) exzellent für die Analyse von Arbeitsbeziehungen. Dabei brachten die dynamischen Beziehungen zwischen den Produzenten, Händlern, Transporteuren, Exporteuren und Unternehmen immer wieder neue, hybride Arbeitsformen hervor. Für die Rekonstruktion stützt sich Oestermann auf die kolonialstaatlichen Überlieferungen, zieht aber bisher wenig genutzte Unternehmensunterlagen, wie vom Woermann-Konzern und der deutschen Konzessionsgesellschaft GSK (Gesellschaft Süd-Kamerun) hinzu. Zusammen mit den "erzählenden" Quellen, Romane und ähnliche Überlieferungen, entsteht eine sehr lebendige und detailreiche Beschreibung.

Dies wird bereits im ersten Kapitel deutlich. Von der Küste aus knüpften deutsche Firmen an ihre Strukturen im Elfenbeinhandel an und implementierten Kautschuk in ihre Handelsmuster. Um die Kautschukfrontier mit der Küste zu verbinden, waren sogenannte Trip-Karawanen notwendig, die zur Entstehung einer lokalen Arbeiterschaft beitrugen. An diesem Beispiel illustriert Oestermann eindrucksvoll die Autonomie der afrikanischen Akteure. Diese transportierten den Rohstoff in ihrem Tempo und nutzten vielfach die sich ergebenden emanzipierenden Elemente dieser Mobilität.

Die Konzessionsgesellschaft GSK wies zwar viele Überschneidungen mit ihren Pendants im Kongo auf, setzte aber nicht auf den zerstörenden Raubbau, sondern auf nachhaltigere Methoden zur Kautschukgewinnung wie den Grätenschnitt, um die Bäume zu erhalten. Zwangsarbeit stellte eine von vielen Arbeitsformen in der Konzession dar und wurde durch den Staat unterstützt, der entsprechende Arbeiter rekrutierte. Trotzdem blieb das Unternehmen abhängig von anderen Arbeitsmigranten, die teilweise selbstbewusst versuchten, eigene Interessen und Rechte durchzusetzen.

Trotz dieser überzeugenden Belege, dass die Kautschukökonomie vielen Menschen auch eine neue Form von Mobilität und gerade Männern gesellschaftlichen Aufstieg versprach, verweist Oestermann auf die zahlreichen Formen von Gewalt. Speziell in der Konkurrenz zwischen den an der Küste operierenden deutschen Handelsfirmen und der GSK ergab sich während des Kautschukbooms ein zunehmendes Konfliktpotenzial. Die Handelsfirmen versuchten mit der Umsetzung des Trade-Back-Handels, einer Weiterentwicklung des kreditbasierten Trust-Systems, mehr Kontrolle über die Produktion zu gewinnen. Angeworbene afrikanische Händler verteilten im Hinterland (und GSK-Gebiet) Warenkredite im Austausch gegen zukünftigen Kautschuk. Zunehmend prallten die Interessen der verschiedenen beteiligten Akteure aufeinander und führten immer wieder zu ausufernder Gewalt. Schließlich griff der Kolonialstaat ein und versuchte, das Gebiet mit der Südexpedition militärisch zu befrieden. Nachfolgende Reformen des Kautschukhandels blieben aber weitgehend erfolglos.

Erst mit den neuen Kautschukplantagen ab 1906 professionalisierte sich die Durchsetzung von Vertragsarbeit in der Kolonie. In dieser Arbeitsform stellte Zwang, ob durch staatliche, unternehmerische oder lokale afrikanische Hierarchien, eine wesentliche Komponente dar und mündete allgemein in einer stärkeren Ausübung von Gewalt an den Arbeitern. Den Europäern gelang es immer stärker, Einfluss auf den Prozess der Kautschukproduktion und den Handel auszuüben.

In allen vier Kapiteln gelingt es dem Autor eindrucksvoll, die komplexen Arbeitsbeziehungen herauszuarbeiten. Entgegen der oft vereinfachten Annahme, dass die afrikanische Kautschukwirtschaft ausschließlich auf Zwang und Gewalt basierte, zeigt Oestermann, dass zahlreiche Afrikanerinnen und Afrikaner die Nachfrage nach Kautschuk und Arbeitskräften für ihre eigene soziale Mobilität nutzten. Damit kann im Detail nachgewiesen werden, was zahlreiche Studien zu anderen Kautschukräumen, beispielsweise an der Goldküste, bereits angedeutet haben. [2]

Zugleich regt die Arbeit zu weiteren Fragen an und eröffnet neue Forschungsfelder. Gerade im überregionalen und globalen Kontext weisen die Erkenntnisse auf viele Parallelen zu den langfristigen Auswirkungen der Kautschukökonomie auf die sozialen Strukturen in anderen Gebieten hin. Das bisherige Bild der afrikanischen Kautschukökonomie wird durch das Werk somit deutlich geschärft.

Insgesamt liefert Tristan Oestermann mit seinem Buch einen wertvollen Beitrag zur Wirtschafts- und Kolonialgeschichte Afrikas. Seine differenzierte Analyse und die umfangreiche Darstellung der Beziehungen zwischen den Akteuren bieten eine neue Perspektive auf die Organisation der Kautschukökonomie in Afrika und geben zudem eine ungewohnt detaillierte Beschreibung der lokalen ökonomischen Entwicklung in einer deutschen Kolonie. Diese Fülle an Informationen wirkt mitunter überwältigend und erfordert vom Leser ein hohes Maß an Konzentration. Doch nur diese dichte Beschreibung ermöglicht es, die komplexen sozialen und wirtschaftlichen Dynamiken der Kautschukproduktion und -vermarktung nachzuvollziehen. Die Studie ist damit nicht nur ein unverzichtbares Werk für alle, die sich mit der Geschichte des Kautschuks in Afrika auseinandersetzen wollen, sondern auch für diejenigen, die sich mit der Entwicklung von kolonialen Arbeitsbeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg befassen.


Anmerkungen:

[1] Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen, 10. Aufl., Stuttgart 2019.

[2] Zuerst vorgestellt bei Robert Harms: The End of Red Rubber. A Reassessment, in: The Journal of African History 16 (1975), 73-88.

Rezension über:

Tristan Oestermann: Kautschuk und Arbeit in Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft 1880-1913 (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 102), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, 757 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-52646-7, EUR 95,00

Rezension von:
Bastian Linneweh-Kacmaz
Georg-August-Universität Göttingen
Empfohlene Zitierweise:
Bastian Linneweh-Kacmaz: Rezension von: Tristan Oestermann: Kautschuk und Arbeit in Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft 1880-1913, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 4 [15.04.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/04/37960.html


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