Was für Historiker und sozialwissenschaftliche Konfliktforscher letztlich als Binsenweisheit gilt, ist großen Teilen der Öffentlichkeit und des politischen Establishments in Deutschland und andere europäischen Ländern erst mit der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 zumindest ansatzweise ins Bewusstsein gerückt: Krieg ist ein dauerhafter Grundbestandteil internationaler Beziehungen, und keine geografische Lage, historische Erfahrung, wirtschaftliche Verflechtung oder friedliebende Grundhaltung bietet die Gewähr dafür, selbst davor gefeit zu sein. Denn "Krieg gehört nicht nur anderswo zum Alltag, sondern auch in Europa. [...] Die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert bedeutet also keine tiefe Zäsur in der Geschichte von Kriegen". (29) Vor dem Hintergrund der langen Zeit bestehenden und wahrscheinlich bei vielen noch immer vorherrschenden Kriegsvergessenheit ist es umso wichtiger, immer wieder auf die aus wissenschaftlicher Perspektive kaum zu bestreitende potenzielle Allgegenwart des Krieges hinzuweisen, und dies in möglichst allgemeinverständlicher und nachvollziehbarer Art.
Genau dies tut Wilfried von Bredow, seines Zeichens emeritierter Professor für Internationale Politik an der Universität Marburg und einer der bekanntesten deutschen Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Außen- und Sicherheitspolitik, in dem vorliegenden Buch. Ausgehend von einer knappen Definition und Einordnung des Phänomens Krieg in die internationalen Beziehungen und ihre Geschichte schlägt er einen weiten Bogen von den Kriegen des 20. Jahrhunderts (d.h. vom Ersten Weltkrieg bis zu militärischen Konflikten nach dem Ende des Kalten Krieges) über sozioökonomisch, politisch und technologisch bedingte Veränderungen in den Erscheinungsformen des Krieges (inklusive der sogenannten neuen, asymmetrischen Kriege, Terrorismus und Kriegsökonomien sowie der Hybridkriegführung der Gegenwart), bis hin zu Konfliktkonstellationen in ausgewählten Regionen (Naher Osten, Afrika, Afghanistan, Russland und seine militärischen Aktionsfelder). Orientierungspunkte sind dabei zentrale Leitgedanken wie erstens die andauernde Relevanz von Anreizen für das gewaltsame Vorgehen "gegen echte oder vermeintliche Feinde" (13), zweitens die Kontinuität des Krieges als Fortsetzung politischen Handelns (ganz im Sinne von Clausewitz), auch wenn sich "die Bandbreite der Mittel erheblich vergrößert" (13) hat, drittens die verstärkte Einbeziehung ziviler Einrichtungen ins Kriegsgeschehen einschließlich nichtphysischer Angriffe (Cyberattacken, Informationskriegführung), viertens der Charakter des Krieges der Gegenwart als "all-inclusive" (14), d.h. angewendet werden alle möglichen Instrumente, von den modernsten Waffensystemen bis zu althergebrachten Kriegstechniken, sowie fünftens die Ausweitung der geografischen Auswirkungen von Kriegen sowie der Anzahl und Charakteristika möglicher Kriegsparteien. Gewaltsame Aggression bildet so ein permanentes Restrisiko internationaler Politik: "Den Opfern von Angriffskriegen bleibt nur die Wahl zwischen Kapitulation und Gegenwehr. Eine friedliche Welt gibt es auch im 21. Jahrhundert nicht und wird es nicht geben." (15)
Ungeachtet der Vielzahl militärhistorischer, politischer, gesellschaftlicher und technologischer Aspekte, die Wilfried von Bredow in seiner tour de force durch die Kriegsgeschichte und Kriegsbilder bis zur Gegenwart anspricht, ist die Allgegenwart und die auf absehbare Zeit nicht mögliche Überwindung des Krieges mit der notwendigen Folge, seine Möglichkeit zu akzeptieren und sich entsprechend zur Behauptung eigener Interessen und Normen vorzubereiten, tatsächlich die zentrale Aussage des Buches: "In der internationalen Politik lässt sich manches über Kooperation erreichen. Aber es ist nicht zu leugnen, dass sich Konflikte auch verschärfen und in einen Krieg übergehen können. [...] Auch wenn es in Gesellschaften, deren Grundlage die Aufklärung ist, schwerfällt, das zuzugeben: Krieg ist nichts Seltenes und keine Ausnahme von der Regel friedlichen Zusammenlebens. Das wäre schön. Aber wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass es in der Vergangenheit kaum eine Generation gab, in deren Leben nicht auch Zeiten des Krieges fielen". (70 und 73)
Konsequenterweise kritisiert der Verfasser gerade gegen Ende seines Werkes insbesondere den bislang eher kontemplativen Zugang der deutschen und europäischen Öffentlichkeit und Eliten zu Fragen der Verteidigung: "In den Demokratien des Westens haben sich unterschiedliche und gegensätzliche Wahrnehmungen der Krisenwirklichkeit und ihrer strukturellen Ursachen fest etabliert, was wirksame Gegenmaßnahmen verzögert oder schlimmstenfalls sogar blockiert. [...] In Europa und speziell in Deutschland ist die Verknüpfung von globalem Krisenbewusstsein und den geopolitischen/geostrategischen Veränderungen der Weltlage lange Zeit unterentwickelt geblieben. Das hat sich bis heute, trotz der Schocks, die der russische Überfall auf die Ukraine 2022 und der Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel 2023 ausgelöst haben, nicht nachhaltig verändert." (250) Entsprechend wird beklagt, dass die Europäer noch immer militärisch vom Schutz der USA abhängig sind oder es in Deutschland an "subjektiver Betroffenheit" für die Kriege in der Nachbarschaft fehlt - "das Bewusstsein für eine objektive Betroffenheit ist wenig entwickelt". (257) Laut von Bredow ist Deutschland "in dieser Hinsicht ein besonderer Fall, weil hier die Distanz zu militärischer Macht und Krieg nach 1945 fast so etwas wie ein tragendes Element seiner politischen Kultur geworden ist. Das würde nicht infrage gestellt werden müssen, wenn aus dieser Distanz nicht eine weit verbreitete und tief im kollektiven Selbstverständnis verankerte Verständnislosigkeit für die Rolle militärischer Macht in der Politik und für die Allgegenwart von Kriegsgefahren im Weltgeschehen erwachsen würde." (258) Vor diesem Hintergrund erscheint eine der Bundesregierung und den Deutschen insgesamt ins Stammbuch zu schreibende "Lehre aus den vergangenen Jahren [...] unabweisbar, nämlich dass ein Staat nur dann auch als Friedensmacht erfolgreich sein kann, wenn er nicht nur den Frieden will, sondern auch die Macht hat, gemeinsam mit anderen den Frieden mitzugestalten." (265)
Man könnte natürlich einige Aspekte des Buches kritisieren, was Details konkreter Kriegsursachen, Kriegsverläufe oder Kriegsbilder angeht. Als Beispiele ließe sich anführen, dass in der neueren Forschung durchaus umstritten ist, ob Japan 1945 wirklich deshalb kapitulierte, weil es "geschockt durch den Einsatz von zwei amerikanischen Atombomben" (22) war, oder ob die "politischen und militärischen Führungen der europäischen Mächte" am Beginn des Ersten Weltkriegs "zutreffende Einschätzungen vom Verlauf des Kriegs gehabt haben" (19), was von Bredow klar verneint. Ebenso hätte der Verfasser bei der Diskussion kriegsrelevanter technologischer Neuerungen, etwa vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges, zugleich noch stärker auf die gleichzeitige Konstanz klassischer Faktoren der Kriegführung wie Zahl und zahlenmäßige Überlegenheit, Verfügbarkeit von "boots on the ground" (sprich: Infanterie) oder auf die Bedeutung von Artillerie und Luftabwehr hinweisen können, um die Komplexität des modernen und wohl auch zukünftigen Kriegsbildes nochmals zu unterstreichen.
Doch all diese Kritikpunkte sind Petitessen, stellt man sie dem vollauf gelungenen Überblickscharakter und dem konzisen, bisweilen lakonischen Schreibstil des Bandes ohne akademische Schnörkel gegenüber. Gerade die abgespeckte Präsentationsweise des Buches mit ihrem Verzicht auf einen wissenschaftlichen Apparat zugunsten einer knappen Auswahl weiterführender Literatur macht es zu einer ungemein wertvollen Schrift in sicherheitspolitisch anspruchsvollen Zeiten, die Pflichtlektüre auf allen Ebenen der politischen Bildung werden sollte.
Wilfried von Bredow: Kriege im 21. Jahrhundert. Wie heute militärische Konflikte geführt werden, Berlin: BeBra Verlag 2024, 280 S., 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-89809-235-7, EUR 28,00
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