Welche Shoah-Erinnerung könnte der Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern dienen? Für den Jerusalemer Historiker Amos Goldberg muss dazu nicht nur der Antisemitismus-Diskurs herangezogen werden, sondern unbedingt auch der Post-Kolonialismus-Diskurs. Diese moralistischen Nachkriegsnarrative bildeten den Diskursrahmen, obwohl sich die beiden Diskurse deutlich voneinander unterscheiden: der Holocaust als Abweichung vom sogenannten westlichen Weg, der zum konstitutiven Geschichtsereignis Europas wurde, und die der Kolonialgeschichte immanente Barbarei, die weder anerkannt noch ausreichend kompensiert worden sei. Angesichts dieser divergierenden Geschichtsaufarbeitung wird die israelische Erinnerung im Hinblick auf die palästinensische Nakba - die mit Flucht und Vertreibung verbundene Urkatastrophe von 1948 - unter die Lupe genommen.
In fünf Abschnitten werden zentrale Begriffe der israelischen Erinnerungskulturpolitik thematisiert: der Antisemitismus, das Museum, der Zeitzeuge, der Überlebende und das Ghetto. Im ersten Abschnitt "Der Antisemitismus: zur Arbeitsdefinition von IHRA" (International Holocaust Remembrance Alliance) geht es um die Debatten rund um die internationale Kritik an Israels Palästina-Politik seit 2001 und die israelischen PR-Kampagnen, solche Kritik einzudämmen. Diese Debatten gipfelten 2016 in der im Westen durchgesetzten Antisemitismus-Arbeitsdefinition der IHRA. Mit ihrer zentralen Botschaft des außereuropäischen "neuen Antisemitismus" (73) richtete sie den Fokus darauf, den Staat Israel als ein jüdisches Kollektiv wahrzunehmen und so den palästinensischen Kampf als antisemitisch motiviert darzustellen und ihn damit zu delegitimieren.
Die Folge sei ein Diskurs-Regime gänzlich im Sinne Israels. Goldberg hierzu: Es konnte "keinen deutlicheren Ausdruck der asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen Ost und West" geben" (67). Es handle sich bei der Antisemitismus-Arbeitsdefinition der IHRA um einen durch und durch kolonialistischen Text. Mit dieser "höchst konservativen Botschaft des Westens" (85) werde die Debatte vom politischen Konflikt auf einen unerklärlichen Judenhass verlagert, was den "islamfeindlichen und fremdenfeindlichen Ethos" beflügle (85). An der Arbeitsdefinition zeigt Goldberg die aufeinanderprallenden Narrative: Während der Anti-/Post-Kolonialismus-Diskurs Israel kritisch als "Siedlerkolonialstaat" bezeichnet, ein Staatsprojekt, das "auf ethnischen Säuberungen" gegründet worden sei und seitdem über ein "rassistisches, ethnokratisches Regime" verfüge (31), spricht der Antisemitismus-Diskurs im Westen dem jüdischen Staat eine historisch-moralische Sonderstellung zu.
Die These der Einzigartigkeit des Holocaust, so Goldberg, liege auch der Hauptausstellung des Jerusalemer Museums 2005 zu Grunde. So erschließt der zweite Abschnitt "Yad-Vashem: 'Das jüdische Narrativ' im globalen Shoah-Museum" ein "abgeschlossenes, quasi mythisch zionistisches Geschichtsnarrativ, das jede Form von Andersartigkeit ausschließt" (129). Insbesondere die ahistorische Präsentation des Geschichtsereignisses steht im Fokus der Kritik: Die Shoah werde einzig und allein als Ergebnis von purem Judenhass dargestellt, losgelöst vom historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs. Die Botschaft sei ein "mythisches Drama", das "mit Antisemitismus beginnt, sich in eine kolossale Katastrophe verwandelt und mit der zionistischen Erlösung der Landschaft [Jerusalems] endet" (148). Dieses "erlösende Geschichtsnarrativ" im Sinne des zionistischen Gründungsmythos "von der Shoah zur Tkuma" (Wiederauferstehung), diene der "jüdischen Selbstviktimisierung": Das Selbstverständnis eines "ultimativen Opfers", das sich aber verdammt sieht, sich stets wehren zu müssen, mache Israels Palästina-Politik nicht nur innenpolitisch, sondern auch im Westen "rechtfertigbar" (130).
Das Hybride an der israelischen Identität thematisiert der Autor im dritten Abschnitt: "Der Zeitzeuge: Die Stimme des Opfers als Melodramatische Ästhetik der Geschichte". Hier wird Saul Friedländers Werk: "Das Dritte Reich und die Juden" (1997 und 2007) als Basistext herangezogen. Goldbergs bemerkenswertes Argument: Um das Exzessive, Unfassbare an der Weltkatastrophe geschichtserzählerisch darstellen zu können, werde sie dramatisiert, und zwar durch die präsentierte Doppelperspektive - die der Täter sowie die der jüdischen Opfer. Die vielen Opferstimmen verliehen der Geschichte der Täter zusammen mit Friedländers Begriff Erlösungsantisemitismus Nachdruck. Die Zeitzeugen mit ihrer jeweils individuellen Opfer-Geschichte ergänzten sie zu einem "verdaulichen", "nachvollziehbaren" "großen Melodrama" (176). Goldbergs gewagte These dient jedoch seiner Kritik an der entpolitisierten Erinnerung: Das Melodrama verpflichte zu nichts; es trage kaum zur moralischen Sensibilisierung für das Leid des anderen, sei "a-politisch", geradezu: "anti-politisch" (181).
Das spannungsgeladene Verhältnis der beiden Ur-Katastrophen ist auch Thema des Abschnitts: "Der Überlebende: Die Shoah und die Nakba - drei Arten Gewalt in den Memoiren eines Holocaust-Überlebenden" (4). Vorgestellt werden die Erinnerungen des Auschwitz-Überlebenden Beni Wircberg, der 1945 in Palästina Heimat gefunden und den zionistischen Ethos verinnerlicht hatte, und damit auch drei Stufen der Gewalt: die vernichtende, die erlösende und die selbstzerstörerische. Illustriert wird damit die immanente Selbstzerstörung der zionistischen Erinnerung: Die Lebensgeschichte eines Überlebenden bis hin zu seinem Selbstmord kurz nach dem Sechstagekrieg dient Goldbergs These, die selbstzerstörerische Gewalt liege der erinnerungskulturpolitischen Ordnung Israels zugrunde, weshalb das israelische Mindset die palästinensische Nakba perpetuiere (225).
Und schließlich behandelt "Das Ghetto: Warschau und Lydda in Elias Khourys Werk: Ähneln sich alle Ghetto-Geschichten?" (5) den Ghetto-Begriff anhand des Werks des libanesischen Romaciers Elias Khoury: "Children of the Ghetto: My Name is Adam" (2016). Hier steht die Frage der Vergleichbarkeit im Fokus. Mit dem Begriff Mimicry aus der Kolonialismus-Forschung erklärt Goldberg Khourys Strategie der "sensiblen, poetischen Shoah-Sprache" (251): Es handle sich hier um einen "Akt der Nachahmung durch die Mimik des Subjekts, das versucht, die Holocaust-Sprache des Herrschers nachzuahmen; dabei die Erinnerung an den Holocaust zu ehren, sich an ihn zu erinnern und ihn aufrechtzuerhalten. Und so lernt er die Sprache der Erinnerung, eignet sie sich an und übernimmt sie in seine Sprache und in seine eigene Geschichte." (260) Nachahmung als Waffe? Goldberg sieht darin ein Potenzial für die Dekolonialisierung der zionistischen Erinnerung (262).
Die Entzionisierung der Erinnerung wäre mit "empathischer Erschütterung" realisierbar, so der Autor in seinem Nachwort: Eine beiden Nachkriegsnarrativen zugrunde liegende Shoah-Erinnerung wäre für die Israelis zwar erschütternd, doch unabdingbar für die Versöhnung und mit ausreichender Empathie für die Opfer auch machbar. Die kolonialen Praktiken des Zionismus anzuerkennen, würde den Horizont für die Anerkennung der Nakba als Gewalttat des Zionismus eröffnen, denn die palästinensische Katastrophe sei nolens volens "Bestandteil jüdischer Geschichte" (278).
Doch ist die Versöhnung gewollt? Israels Palästina-Politik hat eine konflikthafte politische Ordnung etabliert. Die darin enthaltene Eskalationsdynamik führte unweigerlich zur Sinnkrise des zionistischen Israel, was wiederum den Siegeszug des Neozionismus generierte. Diese Form des Zionismus mit dem politischen Ziel eines religiös-jüdischen Nationalstaats in den erweiterten Grenzen eines Groß-Israel macht nicht nur jeglichen Ausgleich mit den Palästinensern unmöglich, sondern verfolgt weiterhin unbeirrbar die Logik der Nakba - und damit auch die Logik des Dauerkriegs. Wie die Krise in der Folge des Massakers vom 7. Oktober 2023 zeigt, wird diese Kriegslogik nicht nur von der Mehrheit der Israelis mitgetragen, sondern ihrer verheerenden Eskalation zum Trotz auch noch immer vom Westen unterstützt. Eben diese Rückendeckung im innenpolitischen Kontext der Radikalisierung des ohnehin kaum kompromissbereiten Zionismus rückt jegliche Dekolonisierung des zionistischen Israel in ferne Zukunft.
Amos Goldberg: And You Shall Remember: Five Critical Readings in Holocaust Memory, Tel Aviv: Resling 2024, 285 S.
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