sehepunkte 25 (2025), Nr. 6

Rudolf A. Mark: Symon V. Petljura

Eine Zeitenwende: Als Rudolf A. Mark 1988 seine erste Petljura-Monografie veröffentlichte [1], auf der in weiten Teilen der hier besprochene Band beruht, gab es noch keinen unabhängigen ukrainischen Staat. Die UNR, die Ukrainische Volksrepublik von 1918, gilt heute weithin als Vorläufer moderner ukrainischer Staatlichkeit seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Unabhängigkeitsreferendum von 1991. Symon Petljura (1879-1926) war ein ukrainischer Journalist, Politiker und Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee im Kriege gegen die Bol'ševiki nach der Oktoberrevolution von 1917. Dass Petljura, 1926 vom jüdischen Emigranten Samuel Schwartzbard in Paris aus Rache für antijüdische Pogrome in der Ukraine ermordet, der Begründer der modernen Ukraine war, entspricht daher einer retroperspektivischen Betrachtung. Schloss das Buch von 1988 auf Seite 209 mit den Worten, Petljura habe die ukrainischen Ansprüche auf nationale Unabhängigkeit wie schon der Hetman des 18. Jahrhunderts verkörpert und nie aufgehört, für ihre politische Verwirklichung zu kämpfen, heißt es 2023 ganz ähnlich, aber doch mit einem entscheidenden Unterschied: "Er [Petljura] stellte wie der Hetman des 18. Jahrhunderts lange Zeit die Verkörperung der ukrainischen Ansprüche auf nationale Unabhängigkeit dar, bevor sie 1991 erreicht wurde" (313).

Einmal unabhängig von der aktuellen politischen Situation, die schon allein Grund genug ist, über die Traditionen ukrainischer Selbstständigkeit vertieft nachzudenken, diskutiert diese Besprechung, inwiefern sich die beiden Petljura-Biografien ein- und desselben Autors substantiell über einen Zeitraum von immerhin 35 Jahren voneinander unterscheiden. Festzuhalten ist zunächst, dass der minutiöse Überblick auf die Anfangsjahre im ersten Kapitel unser Wissen über die politische Sozialisierung des Protagonisten erheblich erweitert. Beeindruckend ist, dass Mark in diesem Abschnitt, über seine frühere Darstellung der ideologischen und strukturellen Verknüpfung hinaus, den persönlichen Interessen und Ideen seines Helden wesentlich näher kommt. Diese Ergänzungen betreffen vor allem dessen politischen und intellektuellen Werdegang in dem Milieu ukrainischer politischer Aktivisten, das damals sowohl sozialistisch als auch proto-national war. Einige von ihnen (Mykola Porš, Volodymyr Vynnyčenko, um nur zwei zu nennen) gehörten, wie Petljura selbst, dann seit Januar 1918 zu den führenden Köpfen der ukrainischen Zentralrada, der Regierung der UNR, die Ende April 1918 von den deutschen und österreichischen Besatzungstruppen wieder gestürzt wurde.

Für den aktuellen Diskurs über die ukrainische Nationalgeschichte erinnert uns Mark im ersten Kapitel zudem an zwei wichtige Aspekte. Diese Nationalbewegung entstand, unter Berücksichtigung aller relevanten Impulse aus dem österreichischen Galizien, bevorzugt im Russländischen Reich, in Städten wie Charkiv und Kyjiv und nicht zuletzt in St. Petersburg. Ideologisch war sie vor dem Ersten Weltkrieg von sozialistischen und atheistischen Entwürfen geprägt, die, und das galt selbst noch für das Jahr 1918, Unabhängigkeit nur föderativ und im Rahmen einer russischen Staatlichkeit postulierte. Aus heutiger Sicht ist Marks Blick auf die Besonnenheit und die staatsmännischen Qualitäten Petljuras nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in doppelter Hinsicht bemerkenswert. In dieser Zeit als Journalist tätig, sei es Petljura darum gegangen, seine ukrainischen Landsleute auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass nun die Verteidigung Russlands Priorität habe und die engagierten Ukrainer ihre Hoffnungen auf ein nach dem Kriegsende erneuertes Reich setzen müssten (51). Zum anderen korrigiert Mark sein eigenes Urteil über die Hauptfigur. Charakterisierte er seinen Helden 1988 als eher farblose Gestalt, spricht die aktuelle Ausgabe Petljura eine einnehmende Persönlichkeit und eine "Geistes- und Herzensbildung" zu, "die ihm manche Tür geöffnet haben mögen" (59). Außerdem hebt der Autor Petljuras "festen Willen" und dessen "rhetorisches Talent" (310 f.) hervor. Dieser historisch-anthropologische Ansatz ist sehr überzeugend, und man hätte sich eine Fortsetzung dieser methodologischen Linie sehr gut auch für die übrigen Kapitel vorstellen können.

Das zweite Kapitel integriert in überaus souveräner Manier die neuere Literatur in die Darstellung der Ereignisse der Revolutionsjahre 1917 und 1918 in der Ukraine. Nochmals unterstreicht MARK das dominante integrationistische Konzept der ukrainischen Nationalbewegung, die selbst unter der Bedrohung durch die russischen Revolutionäre keine antirussische Ukrainisierung affirmiert habe (76). Dieser Abschnitt kommt aber mangels neuer Befunde aus den Archiven kaum über die Ergebnisse der früheren Ausgabe heraus. Marian Luschnat-Ziegler konnte zuletzt überzeugend belegen, wie bereichernd die Sichtung ukrainischer Dokumente in den Staatsarchiven Kyjivs für die einschlägige Forschung sein kann. [2] Warum der Autor auf dieses Quellenstudium der innerukrainischen Perspektive auf seine Hauptperson, beispielsweise des Nachlasses Petljuras im Zentralen Staatsarchiv der Höheren Verwaltungsorgane, verzichtet hat, bleibt offen.

In den Kapiteln drei, vier und fünf fällt das Erbe der ersten Biografie des Autors und die seit 1990 sich intensivierende Ukraine- und Petljura-Forschung deutlicher ins Gewicht als in den beiden Anfangskapiteln. Hier rekapituliert der stets um stilistische Änderungen bemühte Autor ausgiebig Abschnitte aus seinem ersten Petljura-Buch (80, 130ff.). Während dieser Umstand, selbst wenn ein ausdrücklicher Hinweis darauf fehlt, aus redaktionellen Gründen vertretbar sein mag, ist es fragwürdig, warum der Verfasser in weiten Teilen seiner Schilderung zur polnisch-ukrainischen Verknüpfungsgeschichte 1919-1923 (168-286) auf die Rezeption der breiten polnischen und ukrainischen Forschung zu seinem Thema verzichtet. Zwar werden die Werke von Jan Jacek Bruski und Jan Pisuliński hier und da erwähnt, finden jedoch kaum Eingang in die Interpretationen des Autors, ganz zu schweigen von den einschlägigen Arbeiten von, um nur einige zu nennen, Stanisław Stępień, Myrosław Szumiło, Waldemar Rezmer, Andrzej Kowalczyk oder Leonid Zaszkilniak.

Zweifelsohne leistet Mark mit seiner Petljura-Biografie einen wichtigen deutschsprachigen Beitrag für das Verständnis der Wiederbelebung des polnisch-ukrainischen Bündnisses im Kontext des russischen Überfalls seit Februar 2022. Diese modernisierte Ausgabe profitiert davon, dass sich der Autor in der ersten Buchhälfte vertieft mit der persönlichen Entwicklung seines Protagonisten auseinandersetzt. Mark legt somit, trotz aller Einschränkungen im Hinblick auf den referierten Forschungsstand, eine vor allem unter methodologischen Gesichtspunkten moderne Petljura-Erzählung vor, die flüssig geschrieben ist und sich hervorragend liest.


Anmerkungen:

[1] Rudolf A. Mark: Symon Petljura und die UNR. Vom Sturz des Hetmans Skoropadśkyj bis zum Exil in Polen, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 40 (1988), 7-228.

[2] Marian Luschnat-Ziegler: Die ukrainische Revolution und die Deutschen 1917-1918, Marburg 2021.

Rezension über:

Rudolf A. Mark: Symon V. Petljura. Begründer der modernen Ukraine, Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, XII + 345 S., ISBN 978-3-506-79172-6, EUR 39,90

Rezension von:
Frank Grelka
Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies, Frankfurt (Oder)
Empfohlene Zitierweise:
Frank Grelka: Rezension von: Rudolf A. Mark: Symon V. Petljura. Begründer der modernen Ukraine, Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/06/40328.html


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