Irritationen durchziehen unseren Alltag. Sie reißen uns aus Gedanken, durchkreuzen Pläne, bringen Überzeugungen ins Wanken, erschüttern vermeintliche Gewissheiten und zwingen dazu, Sichtweisen zu hinterfragen. Manche stellen unser gesamtes Weltverständnis auf den Prüfstand - etwa, wenn territoriale Eroberungskriege in Europa wiederkehren, sich Staaten von der regelbasierten Weltordnung abwenden und imperialistische Haltungen einnehmen, merkantilistische Zollschranken hochgezogen werden oder ideologische Kulturkämpfe Gesellschaften spalten. Schon dräuen neue Verunsicherungswellen am Horizont heran: die explosive Entwicklung künstlicher Intelligenz und der demographische Kollaps. Dass mit der Welt "irgendetwas nicht so ganz stimmt"[1], ist bei vielen Menschen zu einem nagenden Grundgefühl geworden.
In der Geschichtstheorie gelten solche Verunsicherungsmomente als Orientierungsgelegenheiten, deren Bewältigung eine reflektierte historische Perspektivierung erfordert. Der Geschichtsunterricht sieht sich wiederum als Instanz zur Vermittlung der dafür nötigen Fähigkeiten. Erschütterungen spielen auch eine motivationale Rolle, da sie das Interesse der Lernenden auf zu erschließende Gegenstände lenken und somit den Prozess des historischen Denkens erst produktiv anstoßen. Dass die dabei wirksamen Mechanismen seitens der Geschichtsdidaktik noch vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren haben, ist nicht überraschend, da die ins Wanken geratenen Vorstellungen, Einstellungen und Denkweisen überwiegend vor- bzw. unbewusst sind und sich der Forschung somit nur schwer erschließen.
Hier setzt Benjamin Bräuer mit seiner 2013 begonnenen und nun publizierten Dissertation an. Bereits im Untertitel wirft er die leitende Frage danach auf, "wie Irritationen historisches Denken anregen". Die Antwort darauf sucht er nicht auf empirischem, sondern auf theoretischem Weg, indem er Rüsens Überlegungen zur historischen Orientierung um Elemente von Stegmaiers Philosophie der Orientierung erweitert, welche sich besonders den vorbewussten Aspekten widmet. Dies ist durchaus ambitioniert, verfügt die Geschichtsdidaktik doch bislang noch über keine anerkannten Standards, Kriterien und Musterbeispiele für überfachliche Theorieerweiterungen. Es zeigt sich jedoch, dass sich die beiden Konzeptionen weitgehend widerspruchsfrei zusammenfügen lassen. Auch in bildungstheoretischer und lernpsychologischer Hinsicht tun sich keine konzeptuellen Hürden auf, da die Arbeit auf weitgehend unstrittigen Prämissen fußt: Menschen müssen ihre (unbewussten) mentalen Schemata und Denkroutinen in bewussten Akten umbauen, wenn diese zur Bewältigung vorgefundener Situationen nicht taugen. Dieser Mechanismus liegt auch schulischen Lernvorgängen zugrunde und kann durch geschickt eingesetzte Verunsicherungen angestoßen und katalysiert werden, wie dies beispielsweise in problem- oder konzeptorientierten Unterrichtsansätzen propagiert wird.
Der Autor versteht es, ansprechend zu formulieren und schlüssig zu argumentieren. Regelmäßige Zwischenfazits helfen dabei, den roten Faden nicht zu verlieren. Allerdings fallen streckenweise Längen auf, die der peniblen Auslotung der anspruchsvollen Materie geschuldet sind. Auch treten inhaltlich nicht wenige Redundanzen auf, die wohl nicht zuletzt der langen Entstehungszeit der Arbeit angelastet werden müssen.
Nach der Darlegung von Forschungsfrage und -Methodik eröffnet der erste Teil mit einer Bestandsaufnahme der geschichtsdidaktisch-theoretischen und philosophischen Überlegungen zur menschlichen Orientierung. Dabei werden vor allem Rüsens Überlegungen zur historischen Orientierung erörtert und deren didaktische Übersetzung in Hasberg/Körbers zirkuläres Geschichtsbewusstseins-Modell [2] aufgegriffen. Anschließend werden die zentralen Ansätze der Philosophie der Orientierung beleuchtet, wobei der Fokus auf Kant und insbesondere Stegmaier liegt. Es werden passende Anschlussstellen zwischen den beiden theoretischen Linien gefunden und offengelegt, sodass im folgenden zweiten Teil eine Synthese der beiden Ansätze unternommen werden kann.
Für philosophisch weniger Vorgebildete ist in diesem Teil besonders die genaue Erfassung einschlägiger Begriffe wie "Indikator" oder "Fluktuanz" nützlich. Zunächst werden der Zustand der Orientiertheit und die situativen Gelegenheiten, Angebote und Prozesse der historischen Orientierung konzeptuell gefasst, bevor genauer auf Irritationen eingegangen wird. Diese träten auf, wenn der Abgleich zwischen Erwartungsstrukturen und neuen Erfahrungen nicht glückt und "Teile der vorgängig entwickelten historischen Orientiertheit außer Kraft gesetzt" (250) würden. Menschen sind dann zunächst beunruhigt, suchen den Grund hierfür, wandeln die vage Beunruhigung in eine fokussierte Irritation um, suchen nach Indikatoren für den Einsatz fachbezogener Denkweisen und starten den Prozess der Re-Organisation von Geschichtsbewusstsein. Die individuelle Irritationsfähigkeit steigt mit fachlicher Reflektiertheit und Aufgeschlossenheit, während sie durch Überforderung und geringe Relevanzzuschreibungen gebremst wird und es bei bloßer Beunruhigung bleibt.
Freilich stoßen Verunsicherungen keineswegs zwingend Lernprozesse an und können diese sogar behindern. Daher widmet sich Bräuer im letzten Teil dem produktiven Unterrichtseinsatz mentaler Dissonanzen. Er schlägt acht "Konstruktionsprinzipien" für einen irritationssensiblen Unterricht vor, von denen die eine Hälfte primär auf die Rahmenbedingungen desselben abstellen (Relevantes hervorheben, Altersangemessenheit beachten etc.), die andere auf das Erkennen und Nutzen von Irritationen. Keines der Prinzipien überrascht, vielmehr muten sie recht konventionell an. Kritisiert werden kann, dass die zur Veranschaulichung beigegebenen Unterrichtssituationen recht skizzenhaft und abstrakt bleiben. Der Autor räumt ein, dass seine Vorschläge keiner empirischen Überprüfung unterzogen wurden, stellt aber eine zukünftige empirische Evaluation in Aussicht.
Insgesamt bietet der Band eine minutiös ausgearbeitete Zusammenführung zweier theoretischer Stränge, die durch eine tiefgehende Auslotung der relevanten Begriffe und konzeptuelle Konsistenz besticht. Ob er in der vorliegenden Form auch seinen didaktischen Anspruch einlösen wird, Lehrkräfte dabei zu unterstützen, "sich anbahnende Irritationen [...] erkennen" (15) und produktiv zu wenden, scheint indes fraglich. Zu sehr verlieren sich die Ausführungen noch in abstrakten Platzrunden, zu überschaubar ist ihr unterrichtspraktischer Mehrwert. Hier ist noch auf anschauliche pragmatische Impulse zu hoffen. Klar erscheinen die Verdienste des Bandes dagegen auf der konzeptuellen Ebene. Hier werden der Disziplin Wege zu einer rigiden, den Fachhorizont überschreitenden Theorieerweiterung aufgezeigt, die die vor- und unbewussten Momente historischer Orientierung einschließt.
Anmerkungen:
[1] Mustafa Suleyman: The Coming Wave. Künstliche Intelligenz, Macht und das größte Dilemma des 21. Jahrhundert, München 2024, 179.
[2] Vgl. Wolfgang Hasberg / Andreas Körber: Geschichtsbewusstsein dynamisch, in: Geschichte - Leben - Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag, hg. v. Andreas Körber, Schwalbach/Taunus 2003, 177-200.
Benjamin Bräuer: Historische Orientierungsgelegenheiten. Wie Irritationen historisches Denken anregen (= Geschichte in Wissenschaft und Forschung), Stuttgart: W. Kohlhammer 2024, 311 S., ISBN 978-3-17-044533-8, EUR 69,00
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