sehepunkte 25 (2025), Nr. 7/8

Anna-Myrte Palatini / Sebastian Bischoff: "Sexuelle Revolutionen"

Das hier besprochene Buch wirft Schlaglichter auf verschiedene Aspekte sexueller Revolutionen in ihrem gesellschaftlich-historischen Kontext. Der Aufbau orientiert sich an den drei sexuellen Revolutionen der Neuzeit, die Volkmar Sigusch theoretisch gefasst hat. Sie zeichnen sich aus durch jeweils "bedeutende Veränderungen und Umbrüche der Sexualverhältnisse und -moral" (9). Bevor konkrete Beispiele vorgestellt werden, gibt das erste Kapitel die theoretische Rahmung des Bandes vor und postuliert den Zusammenhang zwischen kapitalistischer Vergesellschaftung und der Sexualität beziehungsweise der Notwendigkeit sexueller Revolutionen.

Das Autorenduo versteht das im Kapitalismus sozialisierte Subjekt als Träger einer spezifischen Sexualität, deren "Form als etwas Überhistorisches, Anthropologisches" (13) erscheint. Geschichte verschwindet Palatini und Bischoff zufolge aus dem Denken und der Erfahrung. Folglich erscheint Sexualität als selbstverständlich und immer schon gewesen, obwohl der Begriff erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts existiert. Das Autorenduo bedient sich hier vor allem an der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung in der Kritischen Theorie, um die "widersprüchliche kapitalistische Vermittlung der Sexualität" (31) zu theoretisieren.

Bevor im zweiten Kapitel Inseln sexueller Liberalisierung vor 1880 vorgestellt werden, setzen sich Palatini und Bischoff kritisch mit der Aussagekraft und dem Gehalt von Quellen auseinander. Beides sei immer abhängig von den zu ihrer Entstehung vorherrschenden Machtverhältnissen und müsste einer entsprechenden Kritik unterzogen werden. Beispielsweise stammt viel Wissen über sogenannte Molly Houses - Etablissements, in denen sich Männer trafen, um miteinander Sex zu haben und Drag Balls zu feiern - aus Gerichtsakten des beginnenden 18. Jahrhunderts. Entsprechend bleibe unklar, ob der Begriff Molly (beleidigend für verweichlicht) als Eigen- oder Fremdbezeichnung genutzt wurde.

Mit den Phalanstère-Kommunen werden frühsozialistische/ utopische Ideen vorgestellt, um im Anschluss auf christliche Inseln sexueller Liberalisierung einzugehen. Hier wird die Oneida-Bewegung beschrieben, die um 1848 in New York aus der protestantischen Erweckungsbewegung entstand. Die Sektenstruktur der Bewegung begünstigte unter anderem sexuelle Gewalt an Frauen und teilweise an Minderjährigen. Palatini und Bischoff beschreiben aber auch, dass Frauen die Freiheit zugestanden wurde, sexuelle Wünsche zu haben und es Wissen um die Existenz der Klitoris gab. Trotzdem erscheint es in Anbetracht der gewaltvollen Verhältnisse fraglich, ob die Oneida-Bewegung zu Recht als Beispiel in dieses Buch aufgenommen wurde. Die Problematik ist Palatini und Bischoff jedoch bewusst. Sie bieten einen guten kritischen Rahmen, der es den Lesenden ermöglicht, selbst zu entscheiden, wie sie diese Frage beantworten wollen.

Das dritte Kapitel umfasst ausgehend von der Arbeiter- und Frauenbewegung um 1900 den Zeitraum bis zur Zerstörung jeglicher emanzipatorischen Diskussionen um Sexualität in Deutschland mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933. In diesem Kapitel gibt das Autorenduo den Theorien Magnus Hirschfelds, Sigmund Freuds und Wilhelm Reichs Raum und wirft einen Blick auf das revolutionäre Russland nach der Oktoberrevolution. Gewinnbringend ist, dass der Band die kleinen wie großen Umbrüche nicht verklärt, sondern aufzeigt, wie sogleich Gegenrevolutionen bzw. reaktionäre Kräfte versuchen, freiheitliche Errungenschaften zurückzudrängen. Dazu zählt auch, dass Gebärstreiks nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendet wurden (114) oder der erste Schwulenfilm eine antisemitische Hetzkampagne auslöste (117). Damit wird das Buch seinem eigenen Anspruch gerecht, denn im Sinne der oben genannten widersprüchlichen Vermittlung der Sexualität lässt sich letzteres "nicht in die Kategorien von Fort- und Rückschritt" einteilen. Vielmehr wirkten "[l]ineare Fortschrittserzählungen einerseits, reaktionäres Re-Traditionalisierungsbegehren andererseits [...] vor diesem Hintergrund [...] wie einseitige Auflösungsversuche dieses Widerspruchs" (31).

Im vierten Kapitel finden sich schließlich unterschiedliche Aspekte der 68er-Bewegung. Im ersten Teil werden die Schriften Wilhelm Reichs auf ihre Rezeption und Anwendung hin diskutiert. Dabei arbeitet das Autorenduo sowohl die Tendenzen von Reichs Abgleiten in die US-amerikanischen New Age Bewegung heraus, würdigt aber auch seine Verdienste. Zeitgenössisch weniger rezipiert wurden die Schriften Herbert Marcuses, womöglich, weil sie sich im Gegensatz zu Reich einer affirmativen Praxis versperrten. Er behielt stets einen gesellschaftskritischen Standpunkt bei und verstand die zeitgenössischen (sexuellen) Liberalisierungstendenzen als eine "zunehmende Integration des Lustprinzips in das bestehende repressive Realitätsprinzip" (167).

Der zweite Teil des Kapitels widmet sich der zweiten Frauenbewegung, den Widersprüchen, die sie selbst hervorbrachte, der Lesbenbewegung sowie den Organisationen von Schwulen und beginnenden Transpersonen in der Bundesrepublik bis 1977. Dass der Fokus hier ausschließlich auf der BRD liegt, ist nur ein kleiner Mangel. Gerade im Anschluss an die Diskussionen in der Sowjetunion, die exemplarisch anhand der Kommunistin Alexandra Kollontai im vorherigen Kapitel dargelegt wurden, und die Ideen der 68er, wäre ein Blick über die Mauer erkenntnisreich gewesen. Stattdessen taucht die DDR nur in den Kapiteln zu sexueller Reproduktion (im Zusammenhang mit der Legalisierung von Abtreibungen) und des Kampfes um die Streichung des § 175 StGB auf. Die vermeintliche Fortschrittlichkeit der DDR in diesen Punkten verschleiert jedoch oft die realen Lebensverhältnisse; sexuelle Revolutionen sahen in der DDR zum einen anders aus - wie beispielsweise die FFK-Bewegung zeigt -, aber es gab auch ähnliche Entwicklungen wie die Kommune I Ost in Ost-Berlin, die sich an ihrem westlichen Pendant orientierte.

Palatini und Bischoff gelingt, was sie sich vorgenommen haben und was die Theorie.org-Reihe des Schmetterling-Verlags anbieten möchte: ein verständlicher Überblick über ein Thema, ohne dabei oberflächlich oder undifferenziert zu sein. Das erste Kapitel ist in Teilen etwas anspruchsvoll. Zentrale Aspekte werden im Folgenden jedoch immer wieder aufgegriffen und das Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin Julia König im dritten Kapitel, das unter anderem Grenzverschiebungen zwischen erwachsener und kindlicher Sexualität behandelt, bietet eine gute Abwechslung - davon hätte es gerne mehr geben können. Trotzdem bietet der Band einen guten Überblick und viele Anregungen zum Weiterlesen.

Rezension über:

Anna-Myrte Palatini / Sebastian Bischoff: "Sexuelle Revolutionen". Eine historisch-politische Einführung (= theorie.org), Stuttgart: Schmetterling Verlag 2025, 240 S., ISBN 978-3-89657-648-4, EUR 15,00

Rezension von:
Anna Domdey
Universität Erfurt
Empfohlene Zitierweise:
Anna Domdey: Rezension von: Anna-Myrte Palatini / Sebastian Bischoff: "Sexuelle Revolutionen". Eine historisch-politische Einführung, Stuttgart: Schmetterling Verlag 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 7/8 [15.07.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/07/40274.html


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