Nach einer Reihe von Working Papers, Sammelbänden und Übersetzungen legt das Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule Aachen die erste Monografie vor, verfasst von seinem Leiter Stephan Grigat. Es handelt sich um eine Sammlung von Interviews und teils überarbeiteten, teils unveröffentlichten Aufsätzen Grigats, die sich auf israelbezogenen Antisemitismus fokussieren. Gerade weil das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoah am 7. Oktober 2023 in Israel und von dezidiert antisemitischen Organisationen verübt wurde, ist dieser Fokus gerechtfertigt.
Besondere Aktualität hat der Aufsatz über die Bedrohung Israels durch den Iran, da zum Abfassungszeitpunkt dieser Rezension (Juni 2025) gerade die Waffenruhe nach dem Krieg zwischen beiden Staaten in Kraft getreten ist. Fundiert und überzeugend skizziert Grigat den antisemitischen Charakter des iranischen Regimes, das neben traditionell islamischen antijudaistischen Motiven auch Pamphlete wie die "Protokolle der Weisen von Zion" verbreitet, die Shoah systematisch leugnet und offen mit der Vernichtung Israels droht. Diese Motive greifen auch ineinander: So dient die Holocaustleugnung keiner Schuldabwehr wie in Deutschland, sondern einer Delegitimierung Israels als Zufluchtsort überlebender Jüdinnen und Juden. Zur Vernichtung des jüdischen Staates verfolgt(e) das Regime die Produktion nuklearer Waffen und die Errichtung eines "Rings of Fire" (99) aus Terrororganisationen in der unmittelbaren Nachbarschaft Israels. "Diese Konstellation gebietet es, das iranische Regime [...] ins Zentrum einer aktuellen Kritik des Antisemitismus zu rücken" (101), wie Grigat nachvollziehbar resümiert.
Andere Artikel widmen sich stärker historischen Aspekten. So wird die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus den arabischen Ländern vor und nach der Staatsgründung Israels 1948 infolge von Pogromen, Diskriminierungen und materieller Not thematisiert. Die meisten der 850.000 Vertriebenen und Flüchtlinge fanden Aufnahme in Israel. Verglichen mit der "Nakba", der Vertreibung von rund 700.000 Palästinenserinnen und Palästinensern während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948/49, bleibt dieser Sachverhalt in der Debatte um den Nahostkonflikt erstaunlich unterbeleuchtet. Ein weiterer Beitrag widmet sich der Geschichte dieses Konflikts von der Gründung Israels bis in die jüngere Zeit in Anlehnung an die Studien des israelischen Historikers Benny Morris. Hier gelingt eine differenzierte Darstellung des Nahostkonflikts, die das Leid auf palästinensischer Seite anerkennt, was nicht in Widerspruch zur dezidiert prozionistischen Stoßrichtung steht.
Oberflächlich und teilweise fehlerhaft bleibt demgegenüber der Abriss über den religiösen Antijudaismus. Auf wenigen Seiten wird in einer Tour de Force eine lineare Entwicklung von den Evangelien über Ritualmordlegenden, Martin Luther bis zur völkischen Bewegung präsentiert. Brüche und Trends fallen unter dem Tisch. Das führt dann zu Fehlurteilen wie folgendem: "Ende des 19. Jahrhunderts gleichen sich die besonders radikalen Fraktionen des christlichen Antijudaismus immer mehr dem rassistischen Antisemitismus an oder übernehmen ihn im Extremfall vollends." (53) Tatsächlich entfaltete sich in der Kaiserzeit ein dezidiert christlicher Antisemitismus im katholischen Milieu, der sich wohlfeil von völkischen Erscheinungsformen abgrenzte. Gerade eine Darstellung der Vielschichtigkeit des christlichen und des vormodernen Antisemitismus hilft, die historische Dynamik des Antisemitismus besser zu verstehen. Das ist notwendig, um aktuelle Erscheinungsformen wie den israelbezogenen Antisemitismus begreiflich zu machen, der auch deshalb von vielen nicht erfasst wird, weil sie Antisemitismus auf den Nationalsozialismus reduzieren. Zudem unterliegt Grigat dem Irrtum, das rassistische Werk Arthur de Gobineaus zu einer Reihe antisemitischer Publikationen aus dem 19. Jahrhundert zu zählen, obwohl es Jüdinnen und Juden zur sogenannten 'weißen Rasse' zählt und erst in der Rezeption antisemitisch interpretiert wurde.
Entscheidend für Grigats Verständnis der Analyse der Erscheinungsformen des Antisemitismus ist die Auffassung, dass es ihr "nicht um ihre bloße Beschreibung gehen kann, sondern um ihre Überwindung gehen muss" (49). Damit einher geht eine politische Positionierung auf Grundlage wissenschaftlicher Ergebnisse. So werden vor dem Hintergrund des 7. Oktober und der iranischen Bedrohung eine "gegebenenfalls auch militärisch[e]" (11) Unterstützung Israels und ein Ende ökonomischer Geschäfte zwischen westlichen Ländern und dem iranischen Regime eingefordert. Eine solche explizite Verschränkung von Wissenschaft und Politik mag zunächst erstaunen, ist aber angesichts des Forschungsgegenstands durchaus verständlich und angebracht. Auch der historischen Antisemitismusforschung geht es darum, einen Beitrag zum Verständnis des Judenhasses zu leisten, um seine Überwindung zu ermöglichen. Damit befindet man sich als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zwangsläufig in einem politischen Feld. Das in aller Offenheit auszuformulieren, hebt Grigats Studie auch von solchen Publikationen der Antisemitismusforschung ab, die sich als politisch neutral und dadurch wissenschaftlich objektiv inszenieren - aber nicht weniger politisch motiviert sind, ohne das hinreichend zu reflektieren. [1]
Die politische Positionierung ergibt sich auch aus dem Anspruch Grigats, eine "radikale Gesellschaftskritik" (223) zu formulieren. In Anlehnung an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule wird Antisemitismus als Ideologie interpretiert, die die krisenhaften Widersprüche des bürgerlichen Kapitalismus auf Jüdinnen und Juden projiziert und sie dafür verantwortlich macht. Besondere Gefahr droht bei der "negative[n] Aufhebung" (223) des Kapitalismus in autoritäre Herrschaftsformen: Jüdinnen und Juden sind wie im Nationalsozialismus oder durch das iranische Regime von der Vernichtung bedroht; zudem fallen mit den bürgerlichen Freiheiten auch die Grundlagen einer Gesellschaftskritik weg. Grigat plädiert dabei für eine Art taktischen Konservatismus, um den bürgerlichen Kapitalismus mit seinen Freiheiten gegen seine rechtsextremen und islamistischen Feindinnen und Feinde zu verteidigen.
Zugleich geht es um die Überwindung der bürgerlichen, "das antisemitische Ressentiment stets aufs Neue aus sich hervorbringende[n] Gesellschaft" (223). Ansatzpunkt bildet die Reflexion des "Produktivitätswahns" (237) und des "Arbeitsfetischismus" (238): Ziel sei die Realisierung individueller Freiheit vom kapitalistischen Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Nicht nur würde dadurch der bürgerlichen Gesellschaft, die auf Verwertung der Arbeitskraft beruht, der Boden entzogen: Grigat weist zudem ideologische Zusammenhänge zwischen dem Arbeitsfetisch und Antisemitismus nach. Angesichts befristeter Arbeitsverträge, unbezahlter Überstunden, mangelnder Stellen, hoher Konkurrenz und zunehmender Verdrängung durch KI müsste diese Kritik gerade im akademischen Milieu auf fruchtbaren Boden fallen. Und wenn dadurch die Möglichkeit aufgezeigt wird, Antisemitismus zu beseitigen, wäre die Rezeption dieses Buchs trotz vereinzelter Kritik umso mehr zu wünschen.
Anmerkung:
[1] Z. B. Peter Ullrich u.a. (Hgg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft, Göttingen 2023; vgl. dazu https://www.library.fes.de/pdf-files/afs/81988.pdf zuletzt aufgerufen am 25.06.2025.
Stephan Grigat: Vom Antijudaismus zum Hass auf Israel. Interventionen zur Kritik des Antisemitismus (= Schriften der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen; Bd. 45), Leverkusen: Barbara Budrich 2025, 256 S., ISBN 978-3-8474-3147-3, EUR 64,90
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