Der von Christine Gundermann, Barbara Hanke und Martin Schlutow herausgegebene Sammelband "Digital Public History. Analytische Zugänge und Lernpotenziale digitaler Geschichte" greift einen aktuellen "Trenddiskurs" der Geschichtswissenschaft und -didaktik auf. Als deutschsprachiger Sammelband zu diesem Thema hat der Band, der auf eine Ringvorlesung an der Universität zu Köln und die Konferenz "Vergangenheitsatmosphären und Verkörperung in digitalen historischen Räumen" zurückgeht, dennoch ein weitgehendes Alleinstellungsmerkmal. [1] Der Band versammelt eine ganze Reihe von Beiträgen, die thematisch in drei Sichtachsen verortet werden: theoretisch-methodische Zugänge, konkrete Fallanalysen und didaktische Zugänge zu Lernpotenzialen.
Die große Stärke des Bandes liegt vor allem im ersten Abschnitt zu den theoretisch-methodischen Zugängen. Hier sticht der auf ein Dissertationsprojekt zurückgehende Beitrag von Felix Zimmermann hervor, der am Beispiel digitaler Spiele im Rahmen der "hermeneutischen Möglichkeit" von "Vergangenheitsatmosphären" einen spannenden Denkansatz eröffnet, der wohl auch auf andere digitale "Geschichtsprodukte" bzw. -manifestationen gewinnbringend übertragbar ist. Zimmermann erweitert damit nicht zuletzt den Authentizitätsdiskurs. Die Relevanz seines Ansatzes wird auch durch die wiederkehrenden Referenzen anderer Autor*innen des Bandes auf seine Überlegungen deutlich. Auch Elena Lewers Zugriff auf das Thema über die Idee eines "Präsenzerlebens", den sie anhand einer Auseinandersetzung mit "Zeitreisen" mit Virtual Reality darlegt, eröffnet anregende neue Perspektiven auf die digitale Public History, wenn auch - wie sie selbst feststellt - empirische Annäherungen zu den von ihr präsentierten theoretischen Überlegungen noch ausstehen. Praktischer wird Julia Paters konkreter Vorschlag einer "Webformat"-Analyse zur Geschichtsvermittlung auf Instagram, die sie auf drei Ebenen (deskriptiv - interpretativ - diskursiv) konkretisiert und mit einem umfangreichen Fragebogen zugleich eine direkte methodische Handlungsanleitung mitliefert.
Die konkreten Fallanalysen und didaktischen Zugänge, die der Band präsentiert, sind teilweise sehr praktisch orientiert und eröffnen damit den Blick auf konkrete Anwendungsbeispiele von Public History im digitalen Raum. Der Beitrag von Anne Schilling und Astrid Schwabe über "Serious Games und historische Bildung" liefert etwa einen sehr konkreten und hilfreichen Innenblick auf Spielentwicklung und die entsprechende Begleitung aus fachwissenschaftlicher bzw. fachdidaktischer Perspektive. Stellenweise wären aber dennoch editorische Eingriffe wünschenswert gewesen, die die Aussagekraft mancher Beiträge hätten schärfen können, wenn etwa im Beitrag "Doing History auf TikTok" das hier eigentlich zentral diskutierte Fallbeispiel eines TikTok-Kanals in nur wenigen Absätzen oberflächlich angekratzt wird und damit die Aussagekraft der Ausführungen eher beschränkt bleibt. Umgekehrt gehen einzelne empirisch-didaktische Beiträge fast schon zu sehr ins Detail. So sind die Ausführungen zum schulischen Umgang mit historischen Lernaufgaben auf der Plattform "segu" zwar durchaus lesenswert, für ein Überblickswerk erscheint die Aussagekraft dieser didaktischen Mikro-Untersuchung allerdings doch etwas zu spezifisch.
In der Gesamtschau zeigen die einzelnen Beiträge eine ganze Fülle an theoretischen und praktischen Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Digital Public History auf, lenken den Blick aber auch auf Schwierigkeiten und Herausforderungen, etwa hinsichtlich des Nutzer*innenverhalten im digitalen Raum, wie etwa Christian Günthers Ausführungen zu Speedrunning in "Lernspielen" am Beispiel Anne Frank House VR, exemplarisch zeigen. In diesem Kontext wird auch immer wieder die Handlungsmacht digitaler Konsument*innen in Bezug auf historische Inszenierung deutlich, die wohlgemeinte und überlegte Zugänge zum digitalen Raum in Frage stellen.
Auch wenn die Herausgeber*innen mit ihrem Band explizit keinen "abschließenden Forschungsüberblick über digitale Public History" (8) vorlegen wollen und "bewusst [...] keine Aussagen über die Matrix einer (Digitalen) Public History als Wissenschaft" (7) treffen wollen, müssen die hier bereits implizit angesprochenen Problematiken dennoch als die zwei zentralen Schwachstellen dieser Publikation benannt werden. So lesenswert viele der Beiträge des Bandes sind, überrascht doch die inhaltliche Auswahl als Ganzes: Es ist verständlich, dass ein einzelner Sammelband nicht alle Bereiche des äußerst heterogenen Phänomens der digitalen Public History abbilden kann. Warum aber die Entscheidung getroffen wurde, eine ganze Reihe von sich teilweise inhaltlich überschneidenden Beiträgen zu den zwei Bereichen "Games" bzw. "Social Media" zu veröffentlichen, aber andere äußerst relevante Aspekte der Digital Public History, darunter im Besonderen der Umgang mit KI, aber etwa auch Streaming, Memes, digitale Genealogierecherche oder digitale Kartographie - um nur hier einige wenige zu nennen - völlig ausgeklammert werden, bleibt unklar. Warum sich zudem ein Beitrag über die Analyse einer frühneuzeitlichen Bildenzyklopädie in diesem Band verirrt hat, bleibt trotz der in der Einleitung dargelegten inhaltlichen "Brücke" zu gegenwärtigen Immersionsversprechungen im Bereich der digitalen Public History offen.
Wenn es sich hier auch um keine Monografie oder ein umfassendes Handbuch handelt, fehlt dem Sammelband zudem eine tiefergehende thematische und methodische Rahmung in der Einleitung oder eventuell gar ein (nicht inkludierter) resümierender Schlusstext. So bleiben abseits der Vorstellung der einzelnen Beiträge bloß knappe drei Seiten Text, in denen die Herausgeber*innen ihren Zugang zum Thema daher nur rudimentär darlegen können und sich dabei etwa bezüglich einer Arbeitsdefinition des titelgebenden Untersuchungsfelds allein auf jene von Serge Noiret, Mark Tebeau und Gerben Zaagsma in ihrem 2022 erschienenen "Handbook of Digital Public History" berufen, ohne selbst konkrete Gedanken dazu zu formulieren.
So lässt der Band trotz vieler lesenswerter Beiträge und gewinnbringender Perspektiven auf die Digital Public History zahlreiche zentrale Fragen rund um dieses dynamische Phänomen offen. Empfehlenswert ist die Lektüre dennoch.
Anmerkung:
[1] Auch wenn zu dem Thema aktuell laufend einzelne Beiträge erscheinen, wie zuletzt etwa Martin Tschiggerl: Public History und digitale Öffentlichkeiten in Sozialen Medien, in: Marion Großmann u. a. (Hgg.): Go Public! Zugänge zur Public History, Wiesbaden 2024, 262-274.
Barbara Hanke / Christine Gundermann / Martin Schlutow (Hgg.): Digital Public History. Analytische Zugänge und Lernpotenziale digitaler Geschichte (= Geschichtsdidaktik diskursiv - Public History und Historisches Denken; Bd. 12), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2024, 313 S., ISBN 978-3-631-91159-4, EUR 61,95
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