sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Emilia Henkel / Rüdiger Stutz (Hgg.): ReformStress

Mit dem Sammelband ReformStress legen die Herausgeberin Emilia Henkel, Doktorandin der Zeitgeschichte, und der Herausgeber Rüdiger Stutz, zuletzt Stadthistoriker in Jena, ein Werk vor, das die schulische Transformation nach 1989/90 aus einer bisher vernachlässigten Perspektive ausleuchtet: Nicht aus der Sicht bildungspolitischer Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger oder als strukturanalytische Studie, sondern aus der Erfahrungs- und Deutungsperspektive derjenigen, die diesen Wandel alltäglich zu tragen hatten: der Lehrkräfte. Damit setzt der Band einen wichtigen Akzent in der zeitgeschichtlichen Transformationsforschung und formuliert implizit ein Desiderat für die historische Bildungsforschung: Die postsozialistischen Umbruchzeit als eigenständigen Abschnitt der deutschen Bildungsgeschichte anzuerkennen und in die einschlägige Historiografie einzubeziehen.

In seiner Einleitung rezipiert Stutz zunächst den Forschungsstand, bezieht hier allerdings lediglich Beiträge aus den 1990er Jahren ein und lässt die freilich nur spärlichen Forschungen der letzten zehn Jahre zum Themengebiet unberücksichtigt. Dennoch überzeugt das methodische Programm. Der Zugriff unterlässt gängige Modernisierungserzählungen, die die ostdeutsche Bildungslandschaft nach 1990 vor allem als Gegenstand notwendiger technokratischer Angleichung sahen. Stattdessen erscheint die Schule als ein Sozialraum, in dem sich Erfahrungen des gesellschaftlichen Umbruchs verdichteten. Im Fall der Lehrerinnen und Lehrer bedeutete dies vor allem Stress, dessen Anstieg bei den Pädagoginnen und Pädagogen in der empirischen "Dresden"-Studie zwischen 1985 und 1994 nachgewiesen werden konnte. Aufgrund dieses Befundes folgert sich der überzeugende Titel.

Die Anlage des Bands ist ausgesprochen vielstimmig. Analytische Beiträge werden mit umfangreichem dokumentarischem Material verschränkt, wodurch sich ein dichtes Bild der lokalen und individuellen Erfahrungsschichten ergibt. So rekonstruiert die Historikerin Katharina Kempken die Reforminitiativen Jenaer Lehrkräfte 1989/90 und weist die "Wahrnehmung neuer politischer Gelegenheitsstrukturen" (85) für den Anstoß einer tiefgreifenden Bildungsreform bei den Akteurinnen und Akteuren nach. Einen wertvollen Beitrag zu den Personalüberprüfungen ostdeutscher Lehrerinnen und Lehrer liefern Erik Fischer und Rüdiger Stutz. Sie zeichnen die Praxis und Spezifika der Überprüfungen in Sachsen und Thüringen unter Berücksichtigung lokaler Konstellationen in Leipzig und Jena nach. Der Soziologe Thomas Ahbe kontrastiert in zwei autobiografischen Erzählungen gegensätzliche biografische Erfahrungen mit DDR-Volksbildung und den Überprüfungsverfahren nach 1990 und beweist hierdurch die Potentiale der "erfahrungsgeschichtlichen Erweiterung" für die Zeitgeschichte und Transformationsforschung, da ohne diese "viele Ostdeutsche ihre komplexen, oftmals ambivalenten Erfahrungen in der untergegangenen DDR und in der deutschen Vereinigungsgesellschaft in der Geschichtsschreibung nicht repräsentiert sehen." Er plädiert somit mit Ganzenmüller/John/Kuller für deren stärkere Berücksichtigung [1], um der "nationalen Meistererzählung einer erfolgreichen Wiedervereinigung" ein notwendiges Korrektiv entgegenzusetzen (146).

Gerade die konsequente Subjektorientierung verleiht dem Band somit seine besondere historiografische Produktivität. Er macht Transformation wie von Dierk Hoffmann und Ulf Brunnbauer vorgeschlagen als "soziale Praxis" [2] greifbar, die von Ungewissheit, institutionellen und biographischen Brüchen, aber auch von neu entstehenden Handlungsmöglichkeiten geprägt war. Die Beiträge eröffnen damit ein Terrain, das sowohl die Transformationsforschung als auch die historische Bildungsforschung bislang nur am Rande kartiert hat. Anstatt Transformation als bloße Nachgeschichte der DDR zu behandeln, wird sie hier als eigenständige Epoche der ostdeutschen Bildungsgeschichte sichtbar - mit eigenen sozialen Dynamiken und normativen Spannungen.

Wertvoll sind auch die Beiträge von Barbara Krug und Emilia Henkel, die die bisher kaum erforschte Rolle von Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärtern Anfang der 1990er Jahre beleuchten, die inmitten des strukturellen Umbruchs der Lehramtsausbildung, Entlassungen und Einstellungsstopps mit unsicheren beruflichen Perspektiven konfrontiert waren. Der Nachwuchs für die ostdeutschen Lehrerzimmer, der die eigentlich erwünschte personelle Erneuerung des Lehrkörpers hätte bringen, saß zwischen allen Stühlen und hatte das Nachsehen.

Lediglich die unglückliche Zersplitterung der einzelnen Literaturverzeichnisse, in die auch die Quellen eingepflegt wurden, ist zu beanstanden. Dies sorgt dafür, dass sich der Band kaum als bibliographische Übersicht eignet. Positiv ist der Anhang zahlreicher Interviewtranskripte, Scans und Faksimile aufschlussreicher Primärquellen, übersichtlich eigens im Inhaltsverzeichnis ausgezeichnet, die die Leserinnen und Lesern zum Stöbern einladen und sich beispielsweise hervorragend für Studierendenarbeiten anbieten.

ReformStress ist ein substanzieller Beitrag zur Transformationsforschung - und mehr noch: ein Anstoß, die postsozialistische Umbruchzeit in die historische Bildungsforschung zu integrieren. Der Band zeigt, dass die 1990er Jahre nicht lediglich als Phase administrativer - sogenannter - Modernisierung, sondern als verdichtete Erfahrungsräume professioneller und persönlicher Neuorientierung verstanden werden müssen. Wer eine Übersicht der deutschen Bildungsgeschichte schreiben will, wird an dieser Perspektive nicht mehr vorbeikommen. ReformStress ist damit nicht nur eine Sammlung von Fallstudien, sondern ein forschungsprogrammatischer Weckruf.


Anmerkungen:

[1] Ahbe zitiert hier aus: Jörg Ganzenmüller / Anke John / Christiane Kuller: Die Ostdeutsche Erfahrung. Auswege aus einem polarisierenden Deutungskampf über unsere Geschichte vor und nach 1989, in: Marcus Böick / Constantin Goschler / Ralf Jessen (Hgg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2020, Berlin 2020, 95-119, hier 100 u. 113.

[2] Dierk Hoffmann / Ulf Brunnbauer: Transformation als soziale Praxis: Mitteleuropa seit den 1970er Jahren (Berlin 2020), 7, https://doi.org/10.15463/IFZ-2021-1.

Rezension über:

Emilia Henkel / Rüdiger Stutz (Hgg.): ReformStress. Jenaer Lehrkräfte und die Transformation des Schulwesens vor und nach 1989 (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte; Bd. 21), Jena: Städtische Museen Jena 2024, 271 S., ISBN 978-3-949860-10-2, EUR 17,80

Rezension von:
Adrian Weiß
Bochum
Empfohlene Zitierweise:
Adrian Weiß: Rezension von: Emilia Henkel / Rüdiger Stutz (Hgg.): ReformStress. Jenaer Lehrkräfte und die Transformation des Schulwesens vor und nach 1989, Jena: Städtische Museen Jena 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/39671.html


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